Aktuell, Kultur
Ach Otto: Die Musikbox in der Kultkneipe in Maxvorstadt ist verstummt
Eine Oase im Münchner Großstadtdschungel ist verschwunden. Nach einem halben Jahrhundert ist „Bei Otto“ in der Gabelsbergerstraße 64 Geschichte. Die legendäre Musikbox: verstummt. Wirtin Renate und ihre Kneipe genossen Kultstatus.
Manchmal begannen die schönsten Abende im Otto bereits auf dem Hinweg. Wenn Eis und Schnee unter den Schuhen knirschten, Kälte die Wangen brennen ließ und der Atem vor dem Gesicht dampfte, dann konnte ein Türglöckchen magische Stunden einläuten. Wer durch die Tür neben dem Fenster mit dem leuchtenden Kugelfisch trat, wurde eingehüllt: in gedimmtes Licht, Zigarettenrauch Stimmengewirr. Und von einer Wärme, die nicht nur aus der Heizung kam. Wer das Otto besuchte, wurde zum Mitspieler in einem Mikrokosmos, in dem der Tresen am Ende des Raums und die Tische davor Bühne, Beichtstuhl und Singlebörse sein konnten.
Mittendrin Renate: Blonde Perücke, geschminkte Lippen, lackierte Nägel. Eine Erscheinung, alterslos. Ihr Mann Otto hatte die Kneipe 1975 eröffnet. Nach seinem Tod machte sie als Wirtin weiter. Mit ihrer bestimmten Art hatte Renate ihre Gäste im Griff. Wenn andere Lokale mit dem Alkohol die Aggression servierten, wurde die Stimmung im Otto ausgelassener. Und die anfänglich oft noch mit ihren eigenen Gedanken beschäftigten Gäste redseliger.
Zu vorgerückter Stunde nahm man dann auch Wanda ab, dass sie mit osteuropäisch klingendem Akzent ihren Lebensunterhalt als Wahrsagerin verdiente, lauschte gespannt den Anekdoten von Franz, der nach einer Fußballerkarriere beim TSV 1860 München viele Jahre international als Reporter für den Bayerischen Rundfunk gearbeitet hat und sang leidenschaftlich mit, wenn Friedel den Comedian-Harmonists-Klassiker „In einem kühlen Grunde“ anstimmte.


Ein leuchtender Kugelfisch im Fenster, dahinter Wärme, die nicht nur von der Heizung stammte. ©Alexander Hauk
Geschmückte Wände, ausgeschmückte Geschichten
Je später der Abend, desto ausgeschmückter die Geschichten, die man sich im Kerzenschein an den Tischen mit den grünen Deckchen erzählte, ergänzt um Wahrheiten, Halbwahrheiten und Lebensweisheiten. Der „Türkheimer“ erzählte von einer Kommune in Spanien, die angeblich RAF-Terroristen Unterschlupf bot. Vielleicht war’s erfunden, vielleicht nicht. Egal. Hauptsache die Gesprächsthemen gingen nicht aus.
Wer bierselig zu sehr ins Schwadronieren geriet, durfte sich auf ein trockenes „Jetz is aber guad“, von Renate gefasst machen. Das kam nicht oft vor, denn Wirtin und Gäste schienen eine geheime Absprache getroffen zu haben: Solange der Umgang respektvoll und die Stimmung gut waren, blieb das leere Getränk vor einem nicht unbedingt das letzte an diesem Abend. „Magst no oans?“, fragte Renate dann mit einer von vielen Unterhaltungen geformten Stimme, die klang, als ob sie am Vorabend eine Rocksängerin ausgeliehen hätte.
Sechs Lieder für zwei Mark
Den besten Überblick in den schmalen, langgezogenen Raum hin zum Tresen am anderen Ende bot die Bank links vor der Eingangstür. Der Platz war bei Unentschlossenen beliebt, die hier Pläne für den Abend schmiedeten. Die Gäste am Tisch davor hatten die kürzeste Distanz zur Rock-Ola 450, einer Musikbox, die Kuriosum und Heiligtum war. Für einen Euro (später zwei), den Renate am Tresen in ein 2-DM-Stück tauschte, konnten Stammgäste nach Einwurf der Münze sechs Lieder per Tastendruck auswählen. Wer im Otto kein bekanntes Gesicht war, erhielt erst einmal eine Einführung von Renate: „Tasten nicht zu fest drücken. Erst weiter wenn die letzte Taste eingerastet ist.“
Die Einweisung war durchaus notwendig. Zu oft hatten Unwissende die leuchtenden Tasten und die darunter liegende Mechanik der Rock-Ola 450 mit zu viel Kraft malträtiert und die Anlage außer Betrieb gesetzt. Wer aber alles richtig gemacht und die Tastenkombination 1-3-3 gedrückt hat, dem gaben die Rolling Stones nach einem kräftezerrenden Arbeitstag mit „Time is on your side“ neue Energie.
Zu den oft gespielten Klassikern zählten „Über sieben Brücken musst du gehen“ (1-4-7) in der Version von Peter Maffay und „Irgendwann bleib i dann dort“ (1-5-7) von STS. Die Lautstärke aus den Boxen war perfekt abgestimmt, um entspannt Gespräche führen zu können. Wenn sich irgendwann am Abend Reinhard Fendrichs „Weus’d a Herz hast wi a Bergwerk“ oder Carlos Santanas „Samba Pa Ti“ wie ein wohliger Klangteppich über den Raum legten, sahen sich verliebte Pärchen tief in die Augen und die anderen gedankenverloren vor sich hin.


Kuriosum und Heiligtum: Die Musikbox durfte nur von Stammgästen oder nach Einweisung von Renate bedient werden ©Alexander Hauk
Keine Automaten für Glücksritter
Auf dem Tisch direkt neben der Musikanlage spendete ein beleuchteter Globus sanftes Licht und inspirierte zu Gesprächen über bisherige und künftige Reiseziele. Ein weiterer Tisch, der zum Tresen nächste, war Treffpunkt für Gäste, die öfter vorbeischauten. Einen Spielautomaten gab es nicht. Obwohl durchaus Platz gewesen wäre, im Gang hinter dem Tresen, der zu den Toiletten führte. „Des zieht nur das falsche Publikum an“, sagte Renate.
Viel lieber begrüßte sie Nachbarn, Professoren und Studenten von den umliegenden Universitäten. Oft kamen auch Schauspieler und Theaterleute vom nahegelegenen Volkstheater vorbei, um ihren Bühnenerfolg im Otto zu feiern. Die holzvertäfelte Wand neben dem Tresen war voller Autogrammkarten mit aus dem Fernsehen bekannten Gesichtern. Direkt darunter hingen Dutzende Postkarten, die Gäste aus dem Urlaub an Renate und ihre Helfer geschrieben hatten.
Bei Otto war weder Instagram-Spot noch Craftbeer-Himmel. Das Bier kam nicht aus einem Fass, sondern die Getränke wurden in Flaschen ausgegeben. Auf Wunsch auch mit Glas. Die Kneippe war eine Boazn wie aus dem Bilderbuch. Dieses wunderbar bayerische Wort für eine Kneipe, die nicht modern sein will und genau deshalb so zeitlos ist.
Während die Menschen immer älter wurden oder neue Gäste hinzukamen, war der Raum über Jahrzehnte nahezu unverändert geblieben. Selbst wenn Renate im Otto etwas hätte ändern wollen, sie hätte es nicht gedurft. „Wennst jetz was Neues hinstellst, is des ned mehr bei Otto“, hieß es dann von den Gästen. So war die Zeit spurlos über die braune Fasertapete, Tische, Stühle, Barhocker und Bilder vorübergezogen.
Eine von wenigen sichtbaren Ausnahmen war Gunter Gabriels Gitarre, vom Musiker signiert. Seit einem Filmdreh 2016 hing sie an der Wand neben dem Tresen. Die größte Veränderung der vergangenen 15 Jahre hatte gar nichts mit Einrichtung oder Deko zu tun. Als sich die Bayern in einem Volksentscheid 2010 für einen Nichtraucherschutz aussprachen, war auch das Otto nicht von einem Rauchverbot verschont geblieben. Die rauchfreie Luft war anfangs gewöhnungsbedürftig, hatte aber den Vorteil, dass die beim Besuch getragene Kleidung am nächsten Tag nicht mehr nach Aschenbecher roch.

Unter den letzten Gästen im Otto war Christian Ude. Der ehemalige Münchner Oberbürgermeister brachte sein Bedauern auf Facebook zum Ausdruck: „Ach Otto! Nun ist es endgültig aus. Aus und vorbei.“ Zwei Männer, ein Transporter, ein leiser Abschied: An einem Donnerstagvormittag wurde die Rock-Ola 450 hinausgeschoben. Wie es mit dem Ort weitergeht, ist unbekannt.
Wer nun in der Gabelsbergerstraße in Höhe der Hausnummer 64 vorbeiläuft, steht vor einer verschlossenen Tür. Manche sehen und hören an dieser Stelle in Gedanken mehr, erinnern sich an Umarmungen, Abschiede und Neuanfänge. An Debatten über Gentrifizierung, Giesing, und die erste Doktorarbeit von Karl-Theodor zu Guttenberg. Und an eine Wirtin mit großem Herz.
Über den Autor:
Alexander Hauk wohnte viele Jahre gegenüber von „Bei Otto“. Anfangs schien ihm die Kneipe beim Vorbeigehen nicht sonderlich einladend. Im Sommer, wenn die Sonne noch am späten Nachmittag die Gabelsbergerstraße ausleuchtete, glich der Blick von draußen durch die geöffnete Eingangstür dem in ein schwarzes Loch. Nachdem er viele Jahre vorbeigelaufen war, ging er eines Tages mit einer Freundin hinein – und kam nicht mehr wirklich raus. Nicht im Kopf. Nicht im Herzen.

Titelfoto: Wirtin Renate hatte ein großes Herz für ihre Gäste und mochte keine Spielautomaten (2010). ©Alexander Hauk