Leben

Das Ãœberlebensmittel

Anna Kistner
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104

Das Leben ohne gültige Papiere gilt in Deutschland als Straftatbestand. 30.000 Illegale sind alleine in München zu einem Alltag im Verborgenen verbannt. Das Café 104 versucht, den unsichtbaren Menschen einen Weg in die Legalität zu eröffnen. Mit Erfolg – und ohne Kaffee.

Birgit Poppert kocht Hagebuttentee. Die dampfende Tasse stellt sie behutsam auf einen kleinen Beistelltisch. Dahinter, auf der Beratungscouch, hat ein afghanisches Ehepaar Platz genommen. Latifa und Samir. Ihre richtigen Namen verraten sie nur Birgit Poppert. Die Frau weint. Tränen kullern ihr über die Wangen. Sie starrt auf den Boden. Wer an der Türe mit dem unscheinbaren Zettel „Café 104“ klingelt, kommt nicht zum Kaffetrinken. Wer das Haus in der Nähe des Sendlinger Tors betritt, braucht medizinische Hilfe oder sozialpsychologische Beratung. Seit elf Jahren leisten die Mitarbeiter des Café 104 genau das.

Die 69-jährige Birgit Poppert ist die einzige, die seit dem Tag der Gründung mit dabei ist. 1998 wurde die Beratungsstelle von Freiwilligen als Gruppe des Bayerischen Flüchtlingsrats eingerichtet. Zur Zeit arbeiten neben Birgit Poppert, noch die Ethnologin Maria und die gebürtige Spanierein Ana-Maria regelmäßig und ehrenamtlich im Café. Mit Kellnern hat ihre Arbeit nichts zu tun. Zwei Mal in der Woche, dienstags und freitags, bietet das Café 104 eine Sprechstunde für „Illegalisierte“ an. Birgit Poppert und ihre Mitstreiterinnen vermeiden das Wort „Illegale“. „Kein Mensch ist illegal“, sagen sie. Wenn sie von den hilfesuchenden Sprechstundenbesuchern spricht, benutzt Poppert das Wort „Klienten“. Latifa ist heute zum ersten Mal da, ihren Mann kennen die Beraterinnen schon von vergangenen Sprechstunden. Lange hat er auf die Einreise seiner Frau warten müssen. Bei entfernten Verwandten in Kabul musste sie monatelang auf ein Visum warten, wegen eines Anschlags war die deutsche Botschaft zeitweise sogar gesperrt. Die Strapazen der auf der Couch zusammengesunkenen Frau müssen enorm gewesen sein.
Birgit Poppert weiß, wann es besser ist, zu schweigen. Erst nachdem die Afghanin den ersten Schluck Tee genommen hat, beginnt Poppert mit ihren Fragen. Es ist nicht leicht, dem Ehepaar den Unterschied zwischen einem Deutschkurs und einem Integrationskurs verständlich zu machen. Beide sprechen gut deutsch. Wozu dann noch der vorgeschrie-bene Integrationskurs? Vor allem Samir ist da skeptisch. Er besitzt bereits ein unbefriste-tes Aufenthaltsrecht, die Einbürgerung seiner Frau hatte er sich einfacher vorstellt. Orientierungslos wühlt er in dem Ordner voller Urkunden, Bescheinigungen und Zeugnisse. „Sie müssen auf Briefe von der Ausländerbehörde unbedingt reagieren,“ beschwört ihn Poppert streng. Der Frau hingegen wirft sie ermunternd ihren Lachfältchen-Blick zu. Der Integrationskurs werde auch nicht lange dauern. „Danach können Sie doch versuchen, einen Job als Übersetzerin zu bekommen, so gut wie sie Deutsch sprechen.“ Eigentlich sieht gut aus für die zwei. Latifa nimmt einen großen Schluck aus der Tasse mit dem Hagebuttentee.

Wer Birgit Poppert in Aktion erlebt, könnte meinen, sie sei nicht viel älter als die junge Frau ihr gegenüber. Die dunklen Haare, der moderne Pagenschnitt – die studierte Germa-nistin und Journalistin Poppert wirkt nicht wie eine, die seit drei Jahren in Rente ist. Die Beschäftigung im Café 104 hat sie sich nicht aus Langeweile gesucht, sie ist zu einer Art Lebensaufgabe geworden. Vor über zwanzig Jahren wollte Poppert eigentlich nur ihren Kleiderschrank entrümpeln. Eher zufällig kam sie auf die Idee, bei Asylbewerberheimen anzurufen. In der Gemeinschaftsunterkunft der Vietnamesen – Birgit Poppert trägt Kleidergröße 34 – nahm man die noch schönen Kleider gerne an. Poppert merkte aber schnell, dass dort vor allem ihre Kompetenz als Deutschlehrerin gebraucht wurde. Sie erteilte von nun an ehrenamtlich Sprachunterricht, kam über diese Arbeit in Kontakt mit dem Bayerischen Flüchtlingsrat, wurde Gründungsmitglied des Café 104 und später Sprecherin des Bayerischen Flüchtlingsrats. Seit drei Jahren arbeitet die drahtige Frau mit den weißen Turnschuhen Vollzeit und ohne einen Cent Entlohnung im Café 104.
Spätestens um 10 Uhr sitzt sie morgens am Schreibtisch. Jeden Tag. Zu den Sprechstun-den am Dienstag und Freitag berät Birgit Poppert die Menschen ohne Pass, Visum, Auf-enthaltsgenehmigung, Arbeitserlaubnis oder Krankenschein. An den restlichen Wochentagen stellt sie für die illegal in München Lebenden Kontakte zu Rechtsanwälten oder Ärzten her, vermittelt Unterkünfte oder begleitet die oft schlecht oder gar nicht Deutsch sprechenden Ausländer beim Gang zur Behörde. „Nur in absoluten Notfällen leisten wir auch direkte Überlebenshilfe, in dem wir zum Beispiel einem völlig verzweifelten Flüchtling 50 Euro in die Hand drücken oder einer illegalisierten Familie eine Streifenkarte für die gefahrlose Rückfahrt ins Asylbewerberheim mit auf den Weg geben,“ sagt Birgit Poppert. Für viele Flüchtlinge ohne Aufenthaltsrecht kann eine einfache Fahrkartenkontrolle, bei der sie ohne Fahrschein aufgegriffen werden, die Abschiebung zur Folge haben.

Wie vielen Illegalisierten sie im Laufe ihrer langen Eherenamtszeit helfen konnte, kann Birgit Poppert gar nicht sagen. Regelmäßig feiert sie kleine Erfolge, die Mitarbeiterinnen der Ausländerbehörde kennen ihren Namen, wissen, dass man sich auf Birgit verlassen kann. Im Kreisverwaltungsreferat wird Poppert sogar eine anonyme Beratung für ihre Klienten gewährt. Verläuft das Gespräch vielversprechend, macht sich Poppert mit dem Klienten auf den Weg zum Amt. Ist der Fall hoffnungslos, bleibt die Person zumindest namenlos und damit immerhin erfolgreich illegal. Birgit Poppert erinnert sich noch gut an die Gründerzeit des Café 104. An die 90er Jahre, in denen das Schicksal der vielen illegal in der Bundesrepublik lebenden Migranten nur wenige Deutsche interessierte. Die Illegalen galten als Kriminelle, von Schleuserbanden war die Rede, von Zwangsprostitution. Dass allein in München 30.000 Menschen ohne Papiere leben, wollten sich die alteingesessenen Münchner besser gar nicht vorstellen. Birgit Poppert und ihre Mitstreiterinnen nahmen sich vor, diese unsichtbare Migrantengruppe ins Blickfeld der Öffentlichkeit zu rücken. Das Café 104 wollte gerade nicht im Verborgenen helfen, es sollte ein Signal gegen die herrschende Politik der Abschottung und Ausgrenzung sein. Ihr erster Beratungsraum in der Thalkirchnerstraße 104, dem das Café auch seinen Namen verdankt, hatte einen Hinterausgang. Falls eines Tages die Polizei vor der Türe stehen sollte, hätte man hier entkommen können.

Bis heute ist das kein einziges Mal passiert. Im Gegenteil: München hat heute die liberalste Politik im Hinblick auf den Umgang mit Menschen ohne staatliche Daseinsberechtigung. Eine Errungenschaft, die auch der offensiven Aktivität des Café 104 zu verdanken ist. Medizinisches Personal in München darf Menschen ohne Versicherungskarte behandeln, ohne dies der Ausländerbehörde melden zu müssen. Münchner Lehrer können die Kinder der Illegalisierten in ihren Klassen unterrichten. Von ihrer Meldepflicht sind sie entbunden. Schwangere Frauen ohne legalen Status bekommen in München drei Monate vor und nach der Geburt einen Duldungsstatus. Die unter diesen Umständen geborenen Kinder erhalten eine Geburtsurkunde. Ein sehr wichtiges Papier. Es könnte so etwas wie Zukunft bedeuten.
Bevor das afghanische Paar nach einer Stunde Gespräch und zwei Tassen Hagebutten-tee das Café 104 verlassen will, holt die Frau eine kunstvoll geschnitzte Holzkiste aus ihrer Handtasche und platziert sie auf dem Beistelltisch. „Die ist für Sie“, sagt die Afghanin. Birgit Poppert ist gerührt. Mit den vielen Geschenken, die Poppert im Laufe ihrer vielen Beratungsgespräche überreicht bekam, könnte sie längst einen „Import-Export“ Laden betreiben. Trotzdem nimmt sie das kleine Holzkästchen ohne gespielte Freude an. Draußen, auf der Fassade des unscheinbaren Ladenlokals des Café 104, steht in Großbuchstaben gemeisselt: „Lebensmittel“. Birgit Poppert, mit ihren zwei Kolleginnen, ihrem ehrenamtlichen Einsatz und ihrem dampfenden Hagebuttentee ist für viele illegalisierte Münchner genau das.

Foto: Marco Merkle” / www.jugendfotos.de, CC-License(by-nd)

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