Kultur

Strick-Guerilla gegen Unsichtbarkeit

Interkulturelle Street Art im Münchner Bahnhofsviertel: Die Künstler und Textilaktivisten Stefanie Müller und Klaus Dietl haben mit jungen Migranten aus dem Schneiderprojekt „Fadenlauf“ eine Telefonzelle eingekleidet.

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Klaus Dietl zieht sich an einer Zwillingstelefonzelle im Münchner Bahnhofsviertel hoch und stülpt dem Logo auf dem Kabinendach eine pinke Wollmütze über. Dann läuft er mit einer riesigen Stoffrolle, die er wie einen Feuerwehrschlauch abwickelt, immer wieder um die beiden Telefonzellen herum.

Ein Dutzend Jugendliche, darunter Somalierinnen, Uigurinnen oder ein Schüler aus Uruguay und Künstlerinnen aus Südkorea und Mexiko bilden einen Kreis um die Kabinen und stricken die beiden Telefonzellen zwei Stunden lang mit ihren Händen in ein buntes Gittergewand ein – aus geblümter 70er Jahre-Bettwäsche und den Resten alter Kleidung aus verschiedenen Ländern. Die Telefonzellen, aus denen seit dem Boom der Billig-Call-Shops im Bahnhofsviertel kaum mehr jemand in die Welt telefoniert, sind wieder zum Knotenpunkt für Kommunikation geworden.

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Das Happening am vergangenen Sonntag hatten sich die beiden Künstler Stefanie Müller, 30, und Klaus Dietl, 35, ausgedacht, um im öffentlichen Raum ein Symbol für interkulturelle Kommunikation zu setzen und jungen Migranten und Migrantinnen aus dem Bahnhofsviertel Gehör zu verschaffen.

Stoff als sozialkritische Projektionsfläche

Einige der Teilnehmerinnen der Strickaktion nähen normalerweise in einer Gemeinschaftsunterkunft für Asylbewerber um die Ecke, ein kleiner Raum ist hier für „Fadenlauf“ reserviert. In dem Qualifizierungsprojekt lernen 30 junge Flüchtlinge und Jugendliche mit Migrationshintergrund Schneiderhandwerk, sie kommen aus Irak, Iran, Afghanistan, Ostturkestan, aus dem Kosovo, Nigeria, Äthiopien, Somalia, Burkina Faso oder Sierra Leone. „Fast alle der afrikanischen Flüchtlinge sind alleine, ohne ihre Eltern, gekommen“, sagt Dorothea Hugle, Sozialpädagogin und Modedesignerin von „Fadenlauf“, die die Jugendlichen zur Strick-Aktion begleitet hat. „Bei etlichen ist der Aufenthaltsstatus ungeklärt“.

Für den Fall, dass die Jugendlichen in ihre Herkunftsländer abgeschoben werden, sollen sie wenigstens etwas gelernt haben, „Fadenlauf“ hilft aber auch bei der Orientierung für Berufe in der Modebranche und stärkt das Selbstbewusstsein für die schwierige Suche nach einem Ausbildungsplatz in Deutschland. Gerade für Mädchen mit Kopftuch ist es schwierig, einen Ausbildungsbetrieb zu finden, ihnen bleibt laut Hugle oft nur die Altenpflege oder der Beruf der Zahnarzthelferin. Durch die kreative Auseinandersetzung mit Stoff, Auftritten auf Modeschauen oder künstlerische Aktionen wie das Einstricken der Telefonzellen in der Öffentlichkeit werden die Jugendlichen selbstsicherer. „Du bist dann nicht mehr so unsichtbar“, meint Hugle.

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Mode und Handarbeit sind für Stefanie Müller eine „Projektionsfläche für sozialkritische Positionen“. Sie hat Kommunikationswissenschaften und Soziologie studiert und macht jetzt alles zugleich: Mode, Kunst, Musik auf einer Nähmaschine, sie studiert Kunsttherapie, hält Vorträge über Kulturtheorie und setzt sich kritisch mit Mode und Handarbeit auseinander. Wie Klaus Dietl ist sie in Rosenheim aufgewachsen, die beiden kennen sich jedoch erst seit knapp zwei Jahren, sie sind sich in München begegnet. Auch der Maler und Street-Art-Aktivist Klaus Dietl hat schon Nacht-und-Nebel-Aktionen Überwachungskameras in leuchtende Gewänder verpackt oder mit Patienten einer Nervenheilanstalt Hörnerwärmer für Ziegen gestrickt, um die sonst abgeschotteten Menschen in der Außenwelt sichtbar zu machen.

Die Idee, mit Textilien im urbanen Raum Zeichen zu setzen, haben Klaus Dietl und Stefanie Müller aus den USA übernommen. Mit einer Texanerin, die das triste Austin mit knalligen Strickwerken verschönerte, fing die Entwicklung von gestricktem Graffiti und Yarn (Garn) Bombing 2005 an. Traditionelle Handwerk-Techniken wie Stricken (knitting) und Häkeln (crocheting) wurden aus dem Kontext der Häuslichkeit befreit. In München gibt es allerdings nur sehr wenige Street-Artisten, die die Straßen mit Stoff, Wolle oder Nadel und Faden erobern.

Normalerweise finden Stefanie Müller und Klaus Dietl es spannend, wenn das Werk vor Ort bleibt und Passanten weiter darauf reagieren. Die Aktion am vergangenen Sonntag war nur temporär, sie haben den Telefonzellen ihr buntes Kleid wieder abgenommen: Das gesponnene Netz wandert in die Ausstellungsräume von Munich Central, einem Projekt der Münchner Kammerspiele für und mit MigrantInnen aus dem Bahnhofsviertel. „Aber ein paar Passanten haben geschaut und manche von den Leuten, die mitgemacht haben, haben Lust bekommen, selbst etwas zu machen“, meint Stefanie Müller, „Ich bin gespannt, was ich da so alles sehen werde.“

Dieser Artikel ist im Online-Magazin Fernlokal erschienen.

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