Kultur

Digitalisierte Literatur

Laura Goudkamp
Letzte Artikel von Laura Goudkamp (Alle anzeigen)

Gesellschaftsl_cke_by-StefanFranke

Marion Schwehr hat das Projekt Streetview-Literatur ins Leben gerufen. Grundidee dieses Konzepts ist es, einzelne Kurzgeschichten vieler verschiedener Autoren zusammenzubringen und ein virtuelles Geflecht entstehen zu lassen. Jede Kurzgeschichte folgt einer einzelnen Person: woher kommt sie, wohin will sie, was passiert auf dem Weg, welches „Geheimnis“ trägt sie mit sich, … Der Leser kann sich entscheiden, welcher Person und welcher Geschichte er folgen möchte. Er kann Eintauchen in das Gemenge von Menschen im Straßengewirr. Er trifft auf Personen, begleitet ihren Weg, bevor er abbiegt und sie im Gewirr von Menschen und Wegen wieder verliert. Die Verknüpfung der einzelnen Texte untereinander erfolgt über die Straßen- und Ortsangaben …

Frau Schwehr, mit Streetview verbindet jeder wahrscheinlich erst mal das umstrittene Projekt von Google. Hat Ihre Streetview Lesung denn damit etwas zu tun?
Ja und nein. Ja, insofern, dass ich Google Maps verwende, also die virtuellen Karten um die Geschichten anzulegen und nachvollziehbar zu machen. Die Karten sind auch in meinen Blog mit eingebunden. Von der technischen Seite also schon und eigentlich auch von der Idee her. Es geht nämlich darum eine Sicht auf die eigene Stadt zu vermitteln, aber eben nicht aus technischer Sicht, sondern in eine literarische Form.

Wie kann man sich das genau vorstellen?
Es sind primär tatsächlich Autoren, die literarische Texte schreiben. Es sind aber auch sogenannte „Hobby-Autoren“ dabei, die ich persönlich sehr schätze, weil die einen ganz anderen Zugang zur Literatur haben. Auf der anderen Seite gibt es auch die alteingesessenen Autoren, die bei Verlagen veröffentlichen und bekannt sind. Ein erster Text zum Beispiel ist von Keto von Waberer. Der zweite oder dritte Text hat Thomas Lang, der Ingeborg-Bachmann- Preisträger, geschrieben. Es ist also eine bunte Mischung. Ich hatte anfangs auch Angst, dass wenn Hobbyautoren mitmachen, die Etablierten sich abwenden. Diese Angst war aber völlig unbegründet. Es gab da überhaupt keine Berührungsängste.
Das Konzept „Streetview“ ist schließlich so aufgebaut, dass es verschiedene Kurzgeschichten gibt und der Leser selbst entscheiden kann welche Geschichte, welche Person er spannend findet. Wenn man die Geschichten liest, erscheinen immer auch die Straßennamen. Das heißt auch, dass sich Geschichten kreuzen und man auch nahtlos in die nächste Geschichte übergehen kann. Das Ganze ist also auch spielerisch angelegt.
Ein Element der Lesung sind noch die Impro-Texte. Am Anfang der Lesung verteile ich Zettel an die Zuhörer, auf denen können sie dann ganz spezielle Orte in München aufschreiben, mit denen sie etwas verbinden. Vor Ort schreibt das Impro-Team, das ich „4 Fun“ nennen, aus den Text Schnipseln eine kurze Geschichte zusammen.

Ist denn das Projekt auf die Stadt München begrenzt?
Ich habe das Projekt erst mal in München gestartet. Hier wollte ich das einfach mal ausprobieren und schauen, ob das Ganze auch funktioniert. Ich hab aber auch Texte aus Berlin und Leipzig, allerdings hab ich da erst nur wenige online gestellt, weil das ganze sehr viel Kraft und Zeit kostet. Vereinzelt habe ich auch noch Texte in Nürnberg, Köln, Zürich und auch in London. Das mit London war aber eher Zufall. Ich kannte da eine Autorin und die hat die Idee dann an ihre Autorenkollegen weitergegeben und so hat sich das verbreitet.

Wie sind Sie denn auf diese ungewöhnliche Idee gekommen?
Mich beschäftigt das Thema Digitalisierung schon sehr lange und auch was sie für die Literatur bedeuten kann. Ich bin Literaturwissenschaftlerin und habe mich jahrelang auch beruflich mit Literatur auseinandergesetzt. Ich habe viel Erfahrung mit Internetprojekten und hab mich gefragt, wie kann man Literatur und Digitalisierung sozusgaen vereinbaren. Etwas fassungslos habe ich beäugelt, was die Verlage gerade tun, die lediglich Bücher digitalisieren und in E-Books packen. Durch die Digitalisierung ist ein großes Experimentierfeld entstanden, das man unbedingt nutzen muss. Es ist sehr spannend, wie die neue Technik die Literatur verändern kann. Da hab ich mich dann eines Tages einfach hingesetzt und mir überlegt, was man da alles machen kann (lacht). Dabei sind mir drei gute Ideen gekommen. Eine davon war eben die Lesereihe „Street View Literatur“!

Wann kam die Idee denn zustanden?
(überlegt) Das war Anfang dieses Jahres, also noch gar nicht so lange her. Im Januar hab ich den Blog erstellt und erst mal die Idee gepostet, damit die Leser einen Einblick in die „Werkstatt“ bekommen. Bis Juni hab ich die Geschichten erst mal online gestellt. Erst seit ein paar Wochen ist die eigentliche Streetview Literatur- Seite online.

Bild Marion Schwehr euryclia
Bild: Viola Schütz

Die erste Lesung der Streetview Literatur hat ja auch schon im Art Babel stattgefunden. Wie war die Resonanz?
Ich fand die Resonanz unglaublich. Es waren mehr als 100 Leute da. Das ist Wahnsinn, wenn man bedenkt, dass bei unbekannteren Autoren im Literaturhaus oft nur 30-40 Leute vorbeikommen. Ich habe auch mit maximal 30 Leuten gerechnet und war dann sehr positiv überrascht. Das Projekt war anfangs gar nicht als Lesereihe gedacht, aber nachdem die Resonanz so groß war und das Feedback so gut, hab ich mir das anders überlegt.

Kann jeder mitmachen?
Es kann erst mal jeder mitmachen. Ich kriege auch Texte von Leuten, die noch nie geschrieben haben, die richtig toll sind und gut reinpassen. Auf der anderen Seite gibt es auch Texte von Leuten, die schon oft geschrieben haben, wo das trotzdem nicht passt. Ich versuch den Autoren auch Hinweise zu geben, in dem ich ihnen zum Beispiel sage, dass sie noch an der Umsetzung feilen müssen oder ich erkläre ihnen warum ein Gedankensprung nicht nachvollziehbar ist. Es ist ganz wichtig am Ende die richtigen Texte auszuwählen.

Gibt es eine gewisse Altersgruppe, die die Texte schreibt bzw. liest?
Ich habe eigentlich erwartet, dass es eher junge Leute sind, die mir Texte schicken, aber es ist letztendlich eine ganz bunte Mischung von Menschen. Auf der anderen Seite habe ich auch gedacht, dass auch die Leser vor allem junge Menschen sind. Vor ein paar Wochen habe ich dann aber eine Anfrage von einer Frau bekommen, die weit über 60 war, die mich fragte, wann denn die App endlich rauskommt (lacht). Ich merke, dass bei den Lesungen oft ältere Leute kommen. Das hat mich überrascht, aber auch gefreut.

Wo kann man die Geschichten nachlesen?
Die Geschichten kann man auf www.streetview-literatur.de nachlesen.

Das Art Babel, wo die nächste Lesung auch wieder stattfindet wird, wurde ja als Nachfolge-Konzept des Puerto Giesing gegründet. Wird es dessen Anspruch gerecht?
Ich finde man kann die beiden nicht vergleichen. Schon allein von der Location her. Das Art Babel eignet sich besonders für Lesungen ganz wunderbar. Dort herrscht immer eine tolle Atmosphäre. Lesung, dass hat oft so was angestrengtes, nach dem Motto „Heute mach ich Kultur“ . Mir geht das ganz oft so im Literaturhaus. Jetzt nicht falsch verstehen. Ich mag das Literaturhaus wirklich sehr, aber ich geh da oft sehr verärgert raus, weil ich denke, dass war jetzt wieder so angespannt. Literatur ist aber aus meiner Sicht in erste Linie Unterhaltung. Das Art Babel vermittelt das ganz gut. Man kann zwischen der Lesung auch mal aufstehen und sich ein Bier holen. Dort kann man einfach einen schönen Abend mit Literatur haben.

Die nächste “Streetview Literatur”-Lesung findet am 20. Oktober im Art Babel statt! Also unbedingt vorbeischauen!

Foto: Stefan Franke

No Comments

Post A Comment

Simple Share Buttons
Simple Share Buttons