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„Barrierefrei heißt: Ohne fremde Hilfe!“ – über die Stadt der vielen Hürden (Interview)
Im Alltag stoßen Menschen mit Geh- und Sehbehinderungen auf viele Hindernisse, besonders im öffentlichen Raum und Nahverkehr. Fehlende Markierungen und Bordsteinabsenkungen oder defekte Hublifte machen es für Rollstuhlfahrer*innen und Blinde schwierig, sich frei zu bewegen. Im Interview mit Günter Fieger-Kritter und Bernhard Claus vom Behindertenbeirat München erfahren wir, wo sie diese Barrieren erleben und was getan werden muss, um die Stadt wirklich barrierefrei zu gestalten.
Bernhard Claus (li.) engagiert sich seit über 20 Jahren im Bayerischen Blinden- und Sehbehindertenbund für Barrierefreiheit.
Günter Fieger-Kritter (re.) ist seit 15 Jahren ehrenamtlich im Behindertenbeirat und war vor seiner Rente als Sozialpädagoge tätig.
Hallo ihr beide, stellt euch doch unseren Leser*innen kurz vor und erzählt, wie ihr im Alltag Barrieren erlebt.
Günter Fieger-Kritter: Ich wurde mit 27 Jahren beim Wandern vom Blitz getroffen. Danach konnte ich nur noch eingeschränkt und mit Krücken gehen. Seit einer Schulterverletzung 2005 bin ich auf den Rollstuhl angewiesen. Erst dadurch wurde mir bewusst, wie viele Barrieren es in unserer Umgebung gibt.
Bernhard Claus: Ich bin vor 40 Jahren bei einem Motorradunfall erblindet. Mir machen nicht die Stufen Probleme, sondern vor allem fehlende Anzeigen, Punktschrift- und Bodenmarkierungen sowie Ampeln ohne akustische Signale.
Ihr wohnt beide am Stadtrand. Wie pendelt ihr in die Stadt?
Fieger-Kritter: Ich wohne in Forstenried und komme vor allem mit meinem umgebauten Camper Bus in die Stadt. Darin kann ich alles mit den Händen bedienen. Meine erste Sorge ist immer: Wo finde ich einen Parkplatz, gibt es genügend Stellplätze für Behinderte? Vor öffentlichen Einrichtungen müssten meiner Meinung nach immer genügend barrierefreie Behindertenstellplätze sein. Aber auch an allen anderen zentralen Plätzen in der Stadt.
Ginge es nicht auch mit Bus und Bahn?
Fieger-Kritter: Leider sind ganz viele Bushaltestellen nicht wirklich barrierefrei ausgebaut. Oft ist der Anstieg in die Rampen zum Bus zu steil und man kommt nicht aus eigener Kraft rein, wenn man keinen motorisierten Rollstuhl hat. Selbst für den Ausstieg ist das oft zu steil.
Claus: Seit 2004 werden die Bushaltestellen auf 18 Zentimeter Höhe gebaut. Das ermöglicht das selbstständige Einsteigen mit einer Rampe in den Bus. Vielerorts ist der Bordstein aber noch zwölf Zentimeter oder niedriger. Erst 40 Prozent aller Haltestellen sind jetzt, zwanzig Jahre später, der neuen Norm entsprechend.
„Erst 40 Prozent aller Haltestellen sind jetzt, zwanzig Jahre später, der neuen Norm entsprechend.“
Wie ist es bei Tram und Bahn?
Fieger-Kritter: Es gibt kein Verkehrsmittel in der Stadt, das wirklich barrierefrei ist. Bei der Tram bin ich völlig chancenlos – auch hier sind die Bordsteine oft zu niedrig.
Claus: Es gibt einen Hublift im ersten Waggon beim Fahrer, aber die sind meistens defekt und der Fahrer darf einen an der Haltestelle natürlich nicht übersehen, da er den Knopf betätigen muss. An der Theatinerstraße bei den Kammerspielen zum Beispiel hält die Tram nicht am Bordstein, sondern direkt auf der Straße und da hat man aus eigener Kraft gar keine Chance mit der Rampe. Da ist der Höhenunterschied zur Straße 20 Zentimeter.
Fieger-Kritter: Die Hublifte sind auch nicht perfekt. Ich bin relativ kräftig in den Armen, aber normalerweise bräuchte man dazu eine Begleitperson. Noch schwieriger ist aber die U-Bahn.
Woran liegt es dort?
Claus: Die Lücke zwischen Bahnsteig und Waggon: Das ist für bestimmte Rollstühle gefährlich – man bleibt leicht stecken. Es gibt zwar gelbe Rampen an den Bahnsteigen, die sind für Elektrorollstühle oft hilfreich, aber nicht für Rollstühle mit beweglichen Vorderrädern. Da ist der Spalt immer noch kritisch.
Fieger-Kritter: Es liegt auch an den unterschiedlichen Bahnsteighöhen. Der Ärger, dass ich immer jemanden brauche und fragen muss, das ist für mich nicht machbar! Also ziehe ich das Auto vor, weil ich die Möglichkeit dazu habe. Aber nicht jeder kann das.
Bleibt noch die S-Bahn…
Claus: Bei der S-Bahn ist am Wagen eine Rampe, die sie auslegen können. Zumindest das funktioniert normalerweise ganz gut. Aber wenn sie im Zeitstress sind, wegen ihres knappen Fahrplans oder keine Lust haben, kann es passieren, dass das nicht klappt. Es kommt vor, dass sie die Rampe nicht auslegen. Die Bahn kann sich zum Beispiel darauf berufen, dass er kaputt war.
„Die Hauptverkehrsträger Bus, Tram und U-Bahn sind in München nicht barrierefrei!“
Fieger-Kritter: Ich muss mich an die Markierung stellen und dem Lokführer signalisieren, dass ich die Rampe brauche. Das dauert vielleicht eine Minute – er muss die Rampe händisch hinlegen. Aber um es zusammenzufassen: Die Hauptverkehrsträger Bus, Tram und U-Bahn sind in München nicht barrierefrei! Ich brauche eigentlich immer eine fremde Hilfe.
Was sagt die MVG dazu?
Fieger-Kritter: Die wissen das genau – sie behaupten gar nicht, sie wären barrierefrei.
Claus: Sie suchen Lösungen. Im Detail wird es oft kompliziert: Bus und Tram etwa haben verschieden hohe optimale Einstiegshöhen von 18 beziehungsweise 25 Zentimeter. An gemischten Haltestellen bräuchte man im Prinzip also eine gestaffelte Haltestelle mit zwei verschieden hohen Niveaus. Man hat sich deshalb für den Kompromiss von 21 Zentimetern entschieden. Aber dann braucht man schon wieder eine Rampe und das ist nicht wirklich barrierefrei.
Fieger-Kritter: Oft spricht man von „beschränkt barrierefrei“. Wir vom Behindertenbeirat lehnen dieses Label aber entschieden ab. Barrierefrei heißt für mich ohne fremde Hilfe!
Sagen wir mal: Trotz Anstrengungen hat man seine Endhaltestelle mit Hilfen erreicht. Wie geht es jetzt weiter?
Fieger-Kritter: Als Rollstuhlfahrer in der Stadt lebt man mit ständigen Erschütterungen. Wo es nur irgendwie geht, gibt es in der Stadt Sockel und Bordsteine, die nicht abgesenkt sind. Wenn sie die Straßenseite wechseln, brauchen sie aber diese Absenkung. Eine kleine Resthöhe von drei Zentimetern ist dagegen für blinde Personen wichtig, damit sie mit ihrem Stock merken: Oh, da kommt jetzt eine Straße mit Autos.
Claus: In München haben wir es geschafft, die sogenannte „getrennte Querung“ zu entwickeln. Das heißt, auf einer Breite von zwei Metern wird auf Null abgesenkt und die anderen zwei Meter der Querung werden auf sechs Zentimeter gesetzt. Das taktile Leitsystem führt dann blinde Personen auf die Passage mit den sechs Zentimetern hin, so dass der Blinde dann eine Stufe hat, die er spürt.
Es wurde aber erst eine solche doppelte Bordsteinabsenkung gebaut. Zwanzig sind in Planung und mehr als 10.000 Kreuzungen gibt es.
Wieso hat man die Weichen nicht früher anders gestellt?
Claus: Die Zivilisation gibt es seit etwa 5.000 Jahren. Vor allem junge, gesunde Männer haben sie erbaut – mit vielen Treppen. Bis in die 1960er Jahre hat man vor allem Fürsorge betrieben. Das bedeutete aber, dass Behinderte überwiegend zuhause und im Heim versorgt wurden – sie konnten nicht an der Gesellschaft teilhaben.
„Die 4940 Jahre, in denen nichts für Barrierefreiheit gemacht wurde, kann man nicht in 60 Jahren ausgleichen. Es wird verbessert, aber es steht nicht immer an erster Stelle.“
Mal allgemeiner – vielleicht sogar rhetorisch – gefragt: Wie würdet ihr den aktuellen Status quo der Barrierefreiheit in München bewerten?
Claus: Wir sind auf dem Weg, barrierefreier zu werden. Die Stadt muss die UN-Behindertenrechtskonvention umsetzen – hat dabei aber viel Spielraum.
Fieger-Kritter: Ich bin nicht so konziliant wie du, Bernhard. Ich erlebe es nach wie vor als ungenügend in München, absolut ungenügend. Es wird viel zu wenig gemacht. Das ist meine feste Überzeugung. Schauen wir mal in den neuen Stadtteil nach Freiham. Der sollte inklusiv werden – ein barrierefreier öffentlicher Raum für 30.000 Menschen. Reden Sie mal mit Leuten, die da draußen wohnen. Da fehlt es an vielem.
Weil die Planung falsch war?
Fieger-Kritter: Weil man zu wenig Leute wie uns beteiligt. Normalerweise müsste ein Architekt im Kopf haben, was Barrierefreiheit bedeutet. Wir wurden teilweise eingeschaltet, aber wir sind alle ehrenamtlich tätig.
Jetzt haben wir von vielen Problemen gehört. Wo läuft es denn gut in der Stadt?
Claus: Am umgebauten Sendlinger Tor muss man sagen: Das ist unten ziemlich barrierefrei. Die Oberfläche und die alte Straßenbahnhaltestelle natürlich noch nicht. Der Hauptbahnhof ist – abgesehen von den Bauarbeiten – für Blinde und Sehbehinderte inzwischen voll zugänglich. Alle Treppen sind mit Handlaufbeschriftung versehen und bei den U- und S-Bahnen gibt es durchgehend taktile Bodenindikatoren. Eigentlich gibt es auch genügend Rolltreppen und Fahrstühle. Aber sobald einer ausfällt, ist man schon wieder weg.
Fieger-Kritter: Für mich als Rollstuhlfahrer sind autofreie Fußgängerzonen gut.
Welche Orte sind besonders schlimm?
Claus: Der Ostbahnhof. Gerade die Busse sind eine Katastrophe. Die halten, wo sie wollen und man findet sich überhaupt nicht zurecht. Es gibt überall Hindernisse, ob es Baustellen oder irgendwelche anderen Sachen sind.
Da müsste also jemand dabei sein, der hilft…
Fieger-Kritter: Ich geb dir ein Beispiel: In Berlin sind 90 Personen beim öffentlichen Verkehrsträger als Begleitende angestellt. Von morgens bis abends ist jemand da, der Bedürftige begleiten kann, selbst an Sonn- und Feiertagen. In München haben wir es gerade einmal geschafft, 19 Stellen aus dem zweiten oder dritten Arbeitsmarkt zu bekommen. Letztes Jahr mussten sie rund zehn Prozent absagen wegen mangelnder Kapazitäten. Wir haben zwei Stellen mehr beim Sozialreferat beantragt. Das haben wir aber nicht durch bekommen.
Claus: Momentan gibt es den Service in München auch nur von Montag bis Freitag von 8 bis 18 Uhr.
Wie ist es denn mit öffentlichen Gebäuden oder Einrichtungen wie Rathaus, Bibliotheken, Museen, also alles was öffentlich ist oder sein soll?
Claus: Wie immer liegt es am Bestand. Wenn man im öffentlichen Bau etwas neu baut, dann möglichst barrierefrei. Aber im Bestand etwas zu machen, ist nicht so einfach, zum Beispiel weil der Raum gar nicht da ist, um einen Fahrstuhl einzubauen. Wir haben noch genügend Museen, wo man als Rollstuhlfahrer nicht reinkommt. Für Blinde sind viele Museen nicht wahrnehmbar.
Ein Beispiel: Das Neue Rathaus ist um die 250 Jahre alt – die Treppen haben jetzt eine Stufenvorderkantenmarkierung. Aber es ist ein schwieriges Thema: Der Denkmalschutz wird oft vor die Barrierefreiheit gestellt.
Fieger-Kritter: Auf dem großen Kopfsteinpflaster im Alten Hof hat man keine Chance als Rollstuhlfahrer.
Laut Bayerischer Bauordnung müssen öffentliche Gebäude eigentlich barrierefrei sein, oder?
Claus: Das bezieht sich aber nur auf Neubauten oder größere Sanierungen. Nur dann ist es verpflichtend.
Wie sieht es in der Gastro aus? Man will ja mal was essen gehen mit Freunden oder Familie.
Claus: Wenn ich mich hier am Hauptbahnhof umsehe, sehe ich wenig, muss ich sagen. Meistens liegt es an den Toiletten. Sie sind oft im Keller ohne Aufzug – und nicht behindertengerecht.
„Barrierefreiheit ist elementar für eine Gesellschaft, in der der Anteil älterer Menschen immer größer wird.“ (Fieger-Kritter)
Welche zwischenmenschlichen Erfahrungen macht ihr mit fremden Personen in der Stadt?
Fieger-Kritter: Früher habe ich mich geniert, Leute um Hilfe zu bitten. Das tue ich mittlerweile nicht mehr und ich mache überwiegend positive Erfahrungen. Mir wird gerne geholfen. Ich erlebe es nur selten, dass mich Leute ignorieren.
Claus: Die Leute helfen, keine Frage. Aber von selbst kommen sie in der Regel nicht darauf.
Sollte ich als Passant*in euch pro-aktiv Hilfe anbieten, würdet ihr euch das wünschen?
Günter Fieger-Kritter: Ich freue mich immer, wenn jemand erkennt, dass ich jetzt Hilfe brauchen könnte. Es ist ein Stück Empathie, das man erfährt.
Man möchte meinen, dass im Stadtrat zwei Parteien regieren, die inklusive Themen sehr stark ins Zentrum stellen. Seid ihr zufrieden mit der Kommunalpolitik?
Claus: Zufriedener auf jeden Fall. Gerade mit dem Baureferat beispielsweise lässt es sich viel besser arbeiten als früher. Das Thema „Inklusion“ und „Barrierefreiheit“ sind auch in der Kommunalpolitik angekommen. Am Sendlinger Tor zum Beispiel war ein Leitsystem total bescheuert geplant worden. Der Architekt wollte das nachträglich auch nicht mehr ändern. Dann hat die Baureferentin ein Machtwort gesprochen und dafür gesorgt, dass der Architekt umgestimmt wird. So etwas hat es früher nicht gegeben.
Fieger-Kritter: Es macht mich wütend, dass wir die zwei zusätzlichen Stellen des Bus- und Bahnbegleitservices nicht bekommen haben. An anderer Stelle ist das Geld offenbar da: Mitte Juni war in der Zeitung groß aufgemacht, dass der Oberbürgermeister 9 Millionen vom Planungsreferat an das Sportreferat umleitet, um einen Tennisplatz für das BMW Open aufzuhübschen. Das wird sicher meine nächste Kommunalwahl Entscheidung beeinflussen.
Claus: Es ist aber referatsübergreifend keine einzige Stelle genehmigt worden, das muss man auch sagen.
Ihr dürft der Politik einen Wunsch oder Gedanken mitgeben. Was nennt ihr?
Claus: Wir brauchen mehr menschliche Assistenz. Diese kann sofort helfen, einfache Hürden zu überwinden, ohne dass das baulich passieren muss. Baulich ist die ganze Stadt schwierig.
Fieger-Kritter: Barrierefreiheit ist elementar für eine Gesellschaft, in der der Anteil älterer Menschen immer größer wird.
Danke für das Gespräch!
Beitragsbild: von Jakub Pabis auf Unsplash / restliche Bilder: © Florian Kraus/Mucbook; außer Portraitfotos (©privat)
Anm. d. Red. (08.08.24): In einer früheren Version hieß es, das Baureferat sei vor der jetzigen Leiterin (Jeanne-Marie Ehbauer) CSU-geführt gewesen. Dies ist falsch. Die gemeinte Rosemarie Hingerl leitete das Baureferat 18 Jahre lang von 2004 bis 2022 bis zu ihrer Pensionierung und wurde parteilos bzw. mit einer parteiübergreifenden Mehrheit gewählt. Auch diese Aussage wurde auf Wunsch des Zitierenden korrigiert.
Die Aussage wurde auch auf Wunsch des Zitatgebers korrigiert.
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