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Geschichten zum Oktoberfest: Magic Gaby

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Spätestens seit der Schiffsschaukel war es kein Spaß mehr. Da stand er im Überschlagkäfig und mühte sich mit dem Hüftschwung, um endlich, und sei es nur für ein Mal, im Kreis zu fliegen, über Kopf, zur Ekstase, während sein Körper in sanften Schwüngen und zielsicheren Stößen die Bewegung immer weitertreiben sollte, weiter und weiter, während sich alles im Kreis dreht und in einem Rausch aus Lichtern und Lärm auflöst. 
Stattdessen war er nur vor- oder zurückgependelt, vielleicht drei, zwei Meter an den Scheitelpunkt des Schiffschaukelkreises herangekommen, aber weiter ging es nicht. Schon seit dem Taumelt, einer Art Zentrifuge für Menschenmaterial, einem Turbo-Karussell für Erwachsene, war ihm etwas flau in der Magengegend, dieses permanente Drehen und Festhalten und noch mehr Drehen hatte die Kräfte aus seinen Muskeln fliehen lassen wie ein Schütteln die Schaumperlen aus einem Weißbier.

Es sollte ja so eine Art Betriebsfeier sein, dieser Ausflug auf die Wiesn, eine Büroklimaverbesserungsmaßnahme. Mit Abteilungsleiter und Sekretariat und allem Drum und Dran war die Abteilung losgezogen, um an dem von der Geschäftsführung bestellten Tisch in der Schützenfesthalle die Hendl- und Biermarken einzulösen. Doch eine Handvoll von ihnen hatte gar nicht vor, sich mit dem Chef auf einen Tisch zu stellen und „Who the fuck is Alice?“ zu brüllen oder sich am Ende gar noch mit den Kollegen und Kolleginnen aus der Tiefbauabteilung zu verbrüdern oder zu verschwestern. Um siebzehn Uhr trafen sie sich am Betriebstisch, eine Stunde später machten sie sich einzeln und unauffällig davon. Vor dem Käferzelt war ihr neuer Treffpunkt, um auf eigene Faust das wahre wilde Leben zu suchen auf dem größten Volksfest der Welt, so hatte es jedenfalls die Ina gesagt. Das Käferzelt als Ziel war natürlich eine bescheuerte Idee fand er, denn dort stehen um diese Uhrzeit immer schon tausend andere Wildentschlossene und begehren Einlass, und alle immer vergeblich. Was für ein Blödsinn, dachte er abermals beim Anblick der schnaubenden, plärrenden Lederhosen- und Dirndl-Massen vor dem sogenannten VIP-Zelt, während nebenan „Dee Vogelpfeifer“ inbrünstig zur Bummstata-Volksmusik trällerte und pfiff, wie ein Bauarbeiter, an dem gerade ein Playboy-Model nackt vorbeischlendert. Ob man diesen Treff beim Käfer wohl nur deshalb gemeinsam verabredet hatte, weil die Idee dazu von Ina gekommen war, die mit ihren kurzen blonden Haaren und ihrem unglaublichen Apfelhintern beim männlich-heterosexuellen Teil der Belegschaft eine sofortige Gehirnerweichung auslöste?

So zogen sie etwas unschlüssig durch die Schaustellerstraße, außer ihm noch drei Männer und zwei Frauen aus dem mittelständischen Entwurfsbüro in bester Münchner Innenstadtrandlage. Doch eigentlich nahm er die anderen gar nicht wahr, er ließ sich treiben durch die Masse der stolpernden, stoßenden, ihren Alkoholpegel mühsam unter Kontrolle haltenden Menschen, sag die Schlagen an den Kassen der Achterbahnen und Autoskooter und die Kotfladen vor dem Lebkuchenstand, sah die um Hälse hängenden Du-bist-mein-Spatzl-Herzen, die ewigen Dirndl und die heiligen Lederhosen, und er merkte, wie so oft in solchen Situationen, dass ihm die Tränen in die Augen stiegen. Er war anders und gehörte nicht dazu. Er wollte an diesem Abend Gaby küssen.

Aber der Weg zu ihrem Mund war vielleicht für einen Steckerlfisch ganz leicht, für ihn aber so gut wie unvorstellbar. Gaby war einen Kopf kleiner als er, sie hatte langes braunes Haar, große Kulleraugen, deren Glanz er mit dem von reifen Marillen verglich, einen kleinen spitzen Und und – er schämte sich dafür, dieses immer wieder zu bemerken – enorm große Brüste. Sie waren sich im Büro schon einige Male nährgekommen, dachte er, und sie hatte ihn irgendwie auffordernd angesehen, dachte er, doch als er sie am Kopierer sanft und gar nicht versehentlich anscheste, schaute sie nur verständnislos und ein bisschen mitleidig. So ging er also weiter, von der Schaustellerstraße Richtung Hippodrom, hinter den anderen her, hinter Gaby her, weiter durch den Strom der trunkenen Leiber, und dachte darüber nach, ob er vielleicht unauffällig in Richtung U-Bahnhof Theresienwiese verschwinden könnte. Dann ließ er Taumler und Schiffsschaukel über sich ergehen und war eigentlich sehr bedient.

Sie kamen noch an dem Weg hinter den Festzelten vorbei, wo auf der mit Gras bewachsenen Böschung am Rande des Geländes die ganzen Sexsachen abliefen, das hatte er zumindest immer wieder in den Boulevardzeitungen gelesen. Männer, die über Frauen herfielen, nachdem sie ihnen K.o.-Tropfen ins Bier geträufelt und scheinbar Sex, in Wirklichkeit nur die Brieftasche wollten; aber auch Männer und Frauen, die gemeinsam und freiwillig übereinander herfielen und es dabei so weit trieben, dass der Ordnungsdienst oder die Polizei dazwischen gingen und es am nächsten Tag in der Zeitung stand – solche Geschichten. Neugierig und verstohlen schaute er zu der Wiese hinüber, die wie eine riesige Alm der Sünde im Halbdunkel lag. Einige Betrunkene lagen dort, auch einige Pärchen, aber es war ingesamt ruhig auf der Alm der Sünde. Er ertappte sich dabei, nach Gaby zu schauen, ob sie auch dorthin schaute, was sie aber nicht tat.

Sie waren dann irgendwie ins Armbrustschützenzelt hineingekommen, natürlich war es wie immer nicht irgendwie passiert, aber hinterher wusste man nicht mehr so genau, ob man nun durch den scharf bewachten Eingang gekommen war, weil man die Frauen vorgeschickt hatte, oder weil die Ordner gerade mit zwei sturztrunkenen Randalierern kämpften, oder weil man im Gedränge einfach so mit der Masse durch die Pforte geschoben worden war, oder ob es alles zusammen irgendwie zutraf. Drinnen fühlte es sich jedenfalls warm und feucht an, es war eng und es schob einen wie von alleine hinein durch den glitschigen Schlund bis in die weite Höhle des trunkenen Glücks, wo die Menschen auf den Tischen standen und grölten und schrien, während ein hämmernder Rhythmus ein „Immer weiter“ befahl und einen tiefer und tiefer hineintrieb in den Schoß der Bierhalle und ihre Wände aus schwitzendem Fleisch.

Sie fanden tatsächlich einen Platz, an dem man selbst ein Bier bestellen konnte, weil gerade ein Dreiergrüppchen aufstand und ging. Sie prosteten fremden Menschen zu und schunkelten nicht mehr zaghaft. An seinem rechten Arm spürte er die Schulter von Gaby, einmal gar ihre Brust, als sie sich schräg über den Tisch beugte. Sie schaute dann nur kurz zu ihm hin, ihre Marillenaugen glänzten und ihr spitzer Mund lächelte so, dass die Lippen für einen Moment die Zähne freigaben.

Das Zelt wogte und schwappte, es dünstete und seufzte, als wenn es seinerseits auf einer großen Alm der Sünde im Halbdunkel läge, und die Menschen in ihm rollten hin und her und dünsteten und seufzten mit. Wie viel Zeit vergangen war, konnte er nicht mehr genau sagen, es konnten anderthalb oder zwei Stunden gewesen sein, der dritte Maßkrug war jedenfalls noch nicht ganz leer, als Gabys Augen zu ihm aufschauten und ihr Mund ihn fragte, ob sie vielleicht zusammen noch „was fahren“ wollten.

Sie stiegen etwas schwankend, aber nicht unsicher in die offene Gondel eines in allen Farben blinkenden Karussells, über seiner Kulissenwand hinter dem Kassenhäuschen leuchtete der Name: „Magic“. Gaby hatte ihn an der Hand zu dem Gerät gezogen, er lief einfach mit und fühlte dabei jedes einzelne Glied ihrer Finger. Er wollte sich gerade noch überlegen, ob das jetzt etwas werde mit Gaby und wenn ja, ob das denn auch gut und richtig sei. Kaum war die Kreisbewegung gestartet, presste die Fliehkraft ihre Hüfte an seine, sein Arm ging um ihre Schultern, ihren Hals, er hielt sie fest und sie hielt ihn fest und er wunderte sich noch kurz, dass ihre spitzen Lippen so kalt waren.

Über den Esperantoplatz gingen sie den ganzen Weg bis zur Tram an der Bayernstraße Arm in Arm, er legte seine Hand fest auf ihre Seite und spürte ihre Finger an seinem Gesäß. An der Haltestelle küssten sie sich mit ihren Bierköpfen und Bierlippen, bis die Straßenbahn kam und sie ganz hinten noch zwei sich gegenüberliegende Plätze Richtung Westend ergatterten. Schweigend fuhren sie und schauten sich an, sobald die zwischen ihren Sitzen stehenden, schwankenden Biermenschen einen Blick freigaben. Nur kurz hielten ihre Augen es miteinander aus, dann trieb die Verlegenheit sie wieder aus dem Fenster. An der Agnes-Bernauer-Straße in Lahm stiegen sie aus, er nahm sie auf den wenigen Schritten bis zu ihrer Wohnung sofort wieder in den Arm. Sie schmiegte sich an ihn; ihm war, als wenn vom östlichen Himmel her, wo der Widerschein der Theresienwiese am leicht dunstigen Himmel hing, der dumpfe Rhythmus der letzten Runden der Fahrgeschäfte bis zu ihnen dran. Dann küssten sie sich einige Minuten und gruben die Hände in die Flanken des anderen.

Als er im Taxi saß, das ihn zu seiner Wohnung im Münchner Umland fuhr, dessen Diesel erbärmlich nagelte, dachte er an die Schiffsschaukel und wie es wäre, ein Mal im Kreis zu fliegen, über Kopf, bis zur Ekstase, während sein Körper in sanften Schwüngen und zielsicheren Stößen die Bewegung immer weitertrieb, weiter und weiter. Dann drehte sich alles im Kreis und sein unbestimmtes Gefühl für diese spitzen Lippen löste sich auf in einem Rausch aus Lichtern und Lärm.


Das Buch
Wiesn-Liebe
Liebesgeschichten zum Oktoberfest
Verlag Claudia Gehrke 2010
Taschenbuch, 279 Seiten,  ca. 10 Euro.
ISBN 978-3-88769-750-1

Claudia Wessel (Hg.), geboren 1958, Redakteurin der Süddeutschen Zeitung, von 2001 bis 2008 als Wiesn-Reporterin. Veröffentlichungen: “Zu dritt”, Erzählungen, 2004. “Affäre”, Roman 2005. “Mein fremder Körper”, Erzählungen, 2007.

Michael Grill ist als gebürtiger Pfälzer ein sogenannter Beute-Bayer und arbeitete bei der Münchner Abendzeitung. Zuvor war er Reporter, Korrespondent und leitender Redakteur bei der Süddeutschen Zeitung und der Frankfurter Allgemeinen Zeitung sowie Sprecher der Bayerischen Schlosserverwaltung und des Bayerischen Wissenschaftsministeriums. Als Höhepunkt seiner Laufbahn betrachtet er die Jahre von 1994 bis 1998, in denen er den Titel “Wiesn-Reporter der SZ” führen durfte.


Fotocredit: konkursbuch VerlagVolker Derlath und Wolfgang Roucka

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