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Handlungswissen für Bürger: Der „Offene Brief“ als Instrument der Bürger-Werkstatt
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Zentrales Thema bürgerschaftlicher Aktivitäten ist es, vorhandene Ressourcen an Wissen und Zeit optimal einzusetzen, um eine möglichst große Wirkung bei den verantwortlichen Akteuren zu erzielen und zugleich die Öffentlichkeit über das Anliegen zu informieren. Nach einer Analyse möglicher Kooperationspartner und dem Aufbau eines Netzwerks ist der Blick auf Persönlichkeiten der jeweiligen Schaltstellen in Wirtschaft, Administration und vor allem auch Politik zu richten, die unmittelbar oder mittelbar dazu beitragen können, das konkrete bürgerschaftliche Anliegen positiv zu beeinflussen.Die moderne „Bürger-Werkstatt“ verfügt über eine reichhaltige Palette von „Instrumenten“ , die für die „Meinungsbildung“ eingesetzt werden können. Aus der Perspektive von Politik und Verwaltung werden diese „Instrumente“ vielfach auch als „bürgerschaftliche Marter-Instrumente“ verstanden, geeignet die Entscheidungsfindung zu erschweren und zu verzögern. Aus bürgerschaftlicher Sicht aber geht es darum, bisher nicht oder nur unzureichend berücksichtigte Aspekte einzubringen, um politisch-administrative Entscheidungsvorgänge und deren Ergebnisse zu optimieren. Eine aktive bürgerschaftliche Teilnahme an Entscheidungsvorgängen im Sinne eines „Labors für experimentelle Demokratie“ wird zu Beginn des 21. Jahrhunderts als selbstverständliche Errungenschaft eines demokratischen Gemeinwesens betrachtet.
Im 18. Jahrhundert: Verzicht auf das Geräusch im Publikum
Im 18. Jahrhundert galt im königlichen Preußen unter Friedrich dem Großen noch der absolutistische Grundsatz „Jeder gute Untertan zeige Mängel des öffentlichen Wesens der Obrigkeit an, mache aber davon kein Geräusch im Publikum“. Unter Friedrich Wilhelm II. wurde diese Beschränkung, die sich auch in der Sentenz „Ruhe ist des Bürgers erste Pflicht“ niedergeschlagen hatte, gelockert. Der von der Obrigkeit eingeforderte Verzicht „auf das Geräusch im Publikum“ findet sich im fortschrittlich-liberalen Preußischen Allgemeinen Landrecht von 1794 nicht mehr. Vielmehr wurde dort ausdrücklich festgelegt, „dass es jedem frey steht, seine Bemerkungen, Einwendungen und Bedenklichkeiten gegen Gesetze und Anordnungen im Staate, so wie überhaupt seine Vorschläge über Mängel und Verbesserungen, sowohl dem Oberhaupte des Staats, als den Vorgesetzten des Departements anzuzeigen.“ Gleichzeitig wurde die Verwaltung gesetzlich verpflichtet, „dergleichen Anzeigen mit erforderlicher Aufmerksamkeit zu prüfen“ (Preußisches Allgemeines Landrecht von 1794, § 156, Teil 2, Titel 20).
Im 21. Jahrhundert: Das Geräusch im Publikum ist unverzichtbar
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist das „Geräusch im Publikum“ für den Erfolg bürgerschaftlicher Aktivitäten unverzichtbar. Öffentliche Resonanz in Print-Medien und mehr und mehr in digitalen Netzen ist Voraussetzung für ein erfolgreiches Umsetzen bürgerschaftlicher Anliegen. Zu den traditionellen Instrumenten, die bevorzugt genutzt werden, um „Geräusch im Publikum“ zu erzeugen, gehört das Instrument des „Offenen Briefs“.
Im Gegensatz zum „verschlossenen Brief“, der zu Gunsten von Absender und Empfänger dem besonderen Schutz des Briefgeheimnisses unterliegt, ist der „Offene Brief“ gerade dazu bestimmt, in den Medien publiziert zu werden. Er ist in der Regel an eine bestimmte Person oder einen konkreten Personenkreis adressiert und soll ein näher bezeichnetes Tun oder Unterlassen bewirken. Im Gegensatz zum „verschlossenen Brief“ will der Absender des „Offenen Briefs“ durch Publizität und bewussten Verzicht auf die Wahrung des Briefgeheimnisses „Geräusch im Publikum“ erzeugen, um den Adressaten des „Offenen Briefs“ zu beeindrucken, zum Nachdenken und im besten Fall zur Änderung seiner Haltung zu bewegen.
Das Instrument des „Offenen Briefes“ sollte nur nach sorgfältiger Abwägung eingesetzt werden. In der Regel kommt ein „Offener Brief“ dann in Betracht, wenn herkömmliche Instrumente der Auseinandersetzung mit den Entscheidungsträgern
ergebnislos waren oder von vornherein keinen Erfolg erwarten lassen. Der Verfasser, der den „Offenen Brief“ in die Öffentlichkeit bringt und zugleich an den Adressaten persönlich schickt, muss damit rechnen, von diesem keine Antwort zu erhalten. Denn in vielen Geschäftsordnungen ist ausdrücklich verankert, dass „Offene Briefe“ grundsätzlich nicht beantwortet werden müssen.
„Offene Briefe“ in der Praxis
Die Themen „Offener Briefe“ sind vielfältig. Beispiele zeigen die große politische Bandbreite auf. Ebenso berühmt wie folgenreich war der „Offene Brief“ des französischen Schriftstellers Emile Zola („J’accuse“) an den Präsidenten der französischen Republik in der Dreyfus-Affäre (1898). Dieser Brief löste nicht nur eine tiefgreifende nationale Debatte in Frankreich aus, sondern bewirkte auch eine innenpolitische Wende.
Große Aufmerksamkeit erregte der Mitbegründer der Initiative von „NOlympia“ Wolfgang Zängl mit seinem „Offenen Brief“ vom 13. November 2013 mit der Fragestellung „Warum unterstützte die SPD die Bewerbung München 2022?“. Seinen „Offenen Brief“ stellte Zängl nicht nur auf die Internetseite von „NOlympia“, sondern versandte ihn auch per Post an Sigmar Gabriel, Markus Rinderspacher, Florian Pronold und Christian Ude. Ob Zängl eine Antwort erhalten hat, ist nicht bekannt.
Anlässlich der Ereignisse in Köln und anderen Städten in der Silvesternacht 2015/16 richteten Flüchtlinge am 11. Januar 2016 einen „Offenen Brief“ an Bundeskanzlerin Angela Merkel. Syrer und Pakistani danken für den in Deutschland gefundenen Schutz und distanzieren sich von den Übergriffen. Sie wollen im Rahmen ihrer Möglichkeiten mithelfen, dass die Gastfreundschaft Deutschlands nicht missbraucht wird.
„Offene Briefe“ in der Stadtplanung
Aber nicht nur in der „großen Politik“ wird das Instrument des „Offenen Briefs“ angewendet. Auch in der kritischen Auseinandersetzung mit Bauvorhaben der öffentlichen Hand oder privater Investoren werden „Offene Briefe“ im Rahmen bürgerschaftlicher Aktivitäten eingesetzt. Adressaten sind in der Regel Entscheidungsträger im politisch-administrativen Bereich. Es gibt aber auch spektakuläre Ausnahmen in der Form des Aufrufs berufsständischer Institutionen an die Fachkollegen, auf die Mitwirkung an ausgelobten Architektenwettbewerben zu verzichten. Es handelt sich hier um eine besondere Ausformung öffentlich ausgetragener Streitkultur, die sich in der Schweiz entwickelt hat.
Die Auseinandersetzung um ein Bauvorhaben der Öffentlichen Hand in Luzern
Wie erfolgreich eine solche solidarische Strategie, getragen von den Repräsentanten berufsständischer Organisationen, sein kann, zeigt die gescheiterte Neubauplanung für die Zentral- und Hochschulbibliothek (ZHB) „Vögeligärtli“ in Luzern. Das kantonale Areal, im Zentrum Luzerns gelegen, sollte einem privaten Investor überlassen werden, der mit einer dichteren Bebauung unter Überbauung essentieller zentraler innerstädtischer Grünräume, Gebäudevolumen und Geschossflächen hätte vervierfachen können. Im Gegenzug hätte der Investor u.a. für Zwecke der ZHB etwa 5.000 qm Nutzfläche kostenlos überlassen. Dieses vom Kantonsrat Luzern favorisierte Modell sah den Abbruch des Bibliotheksbaus aus den 1950er Jahren, einem Kulturgut von nationaler Bedeutung, vor. Vielfältige Initiativen waren erfolgreich. Der Schweizerische Ingenieur und Architektenverein (SIA) wandte sich in einem „Offenen Brief“ vom 3. Dezember 2013 an die Mitglieder des Kantonalrats und appellierte, die Vorbereitungen zum Wettbewerb, der den Neubau der ZHB zum Gegenstand hatte, abzubrechen. Mit einem „Offenen Brief“ vom 14. November 2013 forderte der Bund Schweizer Architekten (BSA) der Zentralschweiz seine neunhundert Mitglieder auf, auf die Teilnahme am Architekturwettbewerb Neubau ZHB „Vögeligärtli“ zu verzichten. Der Vorstand des BSA der Gesamtschweiz hat diesen Aufruf unterstützt und dies u.a. damit begründet, es sei dem Wettbewerbswesen abträglich, wenn ordentliche Verfahren zur Legitimation zweifelhafter Vorhaben missbraucht würden. Diesen Appell verstärkte im Januar 2014 die „Präsidentenkonferenz der Planerverbände der Zentralschweiz“, in der die Spitzen von dreizehn Institutionen versammelt sind, mit einem „Gemeinsamen Aufruf zum Teilnahmeverzicht“ ebenfalls in der Form des „Offenen Briefs“: Der Bibliotheksbau und der damit eng verbundene Freiraum dürfe nicht zerstört werden. Jegliche Bemühungen, die in Richtung Neubau gingen, müssten mit gemeinsamen Kräften verhindert werden. Alle Mitglieder der Planerverbände sollten sich in diesem Sinne gemeinsam engagieren. Diese vorbildlichen solidarischen Aktionen verfehlten ihre Wirkung nicht. Bei einem basis-demokratischen Referendum in der Stadt Luzern am 28. September 2014 wurde die Initiative zur Rettung der ZHB Luzern mit 75 Prozen Ja-Stimmen bei 24 Prozent Nein-Stimmen mit deutlicher Mehrheit angenommen. Im Herbst 2015 gab der Kanton Luzern die Abbruchpläne auf und entschied sich für die Sanierung des Bibliotheksgebäudes.
Die Auseinandersetzung um ein Bauvorhaben der Siemens AG („Magnus-Haus“) in Berlin
Im deutschen Wettbewerbswesen ist der Aufruf berufsständischer Organisationen von Architekten und Ingenieuren zum Teilnahmeverzicht an Wettbewerben – soweit ersichtlich – ein völliges Novum. In Berlin aber wird das vorbildliche „Schweizer Modell“ einer Solidar-Intervention gegenwärtig durch einen „Offenen Brief“ praktiziert. Auf der Internetseite des Deutschen Nationalkomitees von ICOMOS, des Internationalen Rats für Denkmalpflege (www.icomos.de ) findet sich ein für deutsche Verhältnisse außergewöhnlicher „Offener Brief“, der in vieler Hinsicht Seltenheitswert hat. Unter der Rubrik „Aktuelles“ ist ein „Offener Brief“ vom 9. November 2015 gegen die drohende Überbauung des historischen Gartens des Magnus-Hauses in Berlin eingestellt.
Hintergrund des „Offenen Briefs“ ist die Tatsache, dass die Siemens AG im historischen Garten des Magnus-Hauses den Neubau ihrer Berliner Konzernrepräsentanz errichten will, „was einer weitgehenden Zerstörung des Gartengrundstücks gleich käme“. Der „Offene Brief“ richtet sich nicht an den Vorstand der Siemens AG und auch nicht an die Senatsverwaltung, die für das Vorhaben bereits einen positiven Vorbescheid erteilt hat. Adressaten des „Offenen Briefes“ sind potenzielle Mitglieder des Preisgerichts, Architekturbüros und Sachverständige, die unter Umständen eingeladen werden, an einem von der Siemens AG auszulobenden Realisierungswettbewerb mitzuwirken.
Unterzeichner des „Offenen Briefs“ sind die Architektenkammer Berlin, der Architekten- und Ingenieurverein Berlin, der Bund Deutscher Architekten Berlin, der Bund Deutscher Baumeister Berlin, der Bund Deutscher Landschaftsarchitekten Berlin-Brandenburg, der Landesdenkmalrat Berlin, die Vereinigung freischaffender Architekten Berlin- Brandenburg und die Vereinigung für Stadt-, Regional- und Landesplanung.
Bemerkenswert ist: Diese acht Institutionen, deren originäre Aufgabe es ist, das bauliche kulturelle Erbe der Stadt Berlin zu verteidigen, appellieren gemeinschaftlich an das berufliche Ethos ihrer Kollegenschaft, auf Mitwirkung an dem von der Siemens AG beabsichtigten Realisierungswettbewerb für die Berliner Konzern-Repräsentanz zu verzichten. Der „Offene Brief“ schließt mit den Worten: „Durch eine gemeinsam vertretene, klare Haltung könnte die Bauherrin, die Siemens AG, möglicherweise zu einem Umdenken bewegt werden. Einige zur Teilnahme aufgeforderte Büros und Preisrichter haben bereits verzichtet und abgelehnt. Damit diese nicht einfach durch andere ersetzt werden, bitten wir Sie, Ihren Schritt gegebenenfalls auch öffentlich zu machen.“
Gäbe es ein „Handbuch für bürgerschaftliches Handlungswissen“, wäre dieser „Offene Brief“ als Prototyp seines Genres aufzunehmen. Dieser solidarische Appell der vereinten institutionalisierten Fach und Berufswelt an die nationale sowie internationale Kollegenschaft, auf die ehrenvolle, aber auch ertragreiche Teilnahme an einem Realisierungswettbewerb zu verzichten, ist ein zeitloses Dokument, das Schule machen sollte. Es handelt sich um eine neue Qualität des „Geräusches im Publikum“, generiert zu Berlin.
Ob die Siemens AG den Realisierungswettbewerb trotz des „Geräusches im Publikum“ durchführen wird, ist derzeit offen. Das Kapitel „berühmt-berüchtigte Wettbewerbe“ in der Geschichte der Architektur- und Städtebauwettbewerbe wird in jedem Fall fortgeschrieben werden können.
Klaus Bäumler
Zum Weiterlesen
Matthias Beermann, Zeitung zwischen Profit und Politik.
Der Courier du Bas-Rhin (1767-1810), Leipzig
1996, S. 255. Matthias Beermann ist Chefkorrespondent
und Ressortleiter Außenpolitik der Rheinischen
Post, Düsseldorf.
Bernd Rieder, Die Zensurbegriffe des Art. 118 Abs. 2
der Weimarer Verfassung und des Art. 5 Abs. 1 Satz 3
des Bonner Grundgesetzes, Berlin 1970, S. 62. Bernd
Rieder war über zwanzig Jahre Erster Bürgermeister
der Gemeinde Gröbenzell.
Eberhard Laux, Roman Herzog, Kommunale Selbstverwaltung.
Überprüfung einer politischen Idee,
Cappenberger Gespräche der Freiherr-vom-Stein-
Gesellschaft, 1984, S. 53.
Heidede Becker, Geschichte der Architektur- und
Städtebauwettbewerbe, Schriften des Deutschen
Instituts für Urbanistik, Bd. 85, Stuttgart 1992, S. 32
Details
zum Projekt in Luzern: http://www.architekten-bsa.ch/fr/sections/bsa-zentralschweiz
(aufgerufen: 24.02.2016).
zum Siemens-Projekt Magnus-Haus: Georg Mörsch,
Ein Haus in Berlin, NZZ vom 26. Dezember 2015:
http://www.nzz.ch/meinung/kommentare/ein-haus-inberlin-1.18668062 .