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“Hör endlich auf, mich zu lieben!”

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gasolinebill

Vier Cowgirls und -boys rauchen vor dem effektvollen Lamettavorhang eines tibetanischen Gebetmühlensaloons. Glanz, Glanz Glitzer! Sie reden nicht, eher erbrechen sie ihre endlos langen Zeilen in Richtung Publikum. Voller Vergnügen, oft hysterisch. Monologfontänen prasseln unentwegt auf den Zuschauer ein, alles ist im steten Transformationsfluss: Themen, Kontext, Identitäten, Weltbild, Bühnenbild. Satzfragmente bleiben kurz im Gedächtnis haften, bevor sie weggespült werden von… anderem. Das ist nicht neu, besonders nicht bei Pollesch, aber das ist amüsant. Auch wenn Pollesch sich im Programmheft dagegen wehrt, dass einige Sachen als „Witz“ gelesen werden.

Wiederkehrendes motivisches Treibgut lässt darauf schließen, dass man sich im Monologmeer die Kluft zwischen Anspruch, Handeln und erwarteter Belohnung des Handelns, als eines von vielen thematischen Zentren heraussuchen darf. Wird der mit dem oft so widerlich als „Gutmenschentum“ titulierte moralische Aktionismus saturierter Bildungsbürger der Lächerlichkeit preisgegeben? Das wäre zu einfach. Doch es ist der Teil des Abends, der offenbar die meisten Lacher einheimst: Das Geständnis, dass die beiden Delfine nicht gerettet wurden! Die Empörung des Entwicklungshelfers, der zum Wohle der Menschen in Afrika seine Ausbildung hintenangestellt hat, und dem zur dankbaren Entlohnung aufs Bett gekackt wurde. Das ist der kleinste gemeinsame Nenner. Ähnlich viele Lacher bekommen vor allem die Slapstickeinlagen. Und schließlich fragt man sich, trotz aller Metaisierung und Lektüreanleitung (Zizek, Lacan), ob hier nicht letztlich einfach reibungsarmer, unterhaltsamer Quatsch goutiert wird.

Ganz so einfach scheint es nicht. Denn, so der Verdacht, ist das gar eine „Infinite Jest“-affine, strategische Verwirrung durch angenehme Überfrachtung? Ist dies der erwünschte passive Zuschauerzustand? Jemand, man vergisst, wer, man vergisst, wann, sagt plötzlich sinngemäß: Du hast da eine wichtige Frage gestellt, vor dieser thematischen Sintflut. Ist es das? Sich die moralischen Entscheidungen nicht stellvertretend auf der Gebetsmühlenbühne beantworten zu lassen und sich eben nicht nebenbei auf das Auffinden des verlorenen Füllers zu konzentrieren? Sich nicht von sich selbst oder anderen ablenken zu lassen und die einzig relevante Frage zu stellen, auch, wenn alles kollabiert? Und sich nicht mit der immersiven Erfahrung eines „Gravity“ zu begnügen, die doch nur unterhaltsame Projektion ist und ablenkt?

Die Moral der Anekdote um einen zusammengebrochenen Schauspieler passt dort gut hinein. Zu gut. In der Erzählung – Parabel? – geht es um einen Schauspieler, der hinter der Bühne zusammenbricht. Seine Kollegen nesteln voller routinierter, nicht eigenständig hinterfragter Mitmenschlichkeit an ihm herum, damit die Aufführung weitergehen kann, ohne ebenjene essentielle Frage zu stellen: Sollen wir zum Wohle des Kollegen – und aus tatsächlicher Mitmenschlichkeit – das Stück nicht einfach abbrechen? Kann das nicht auf Greenpeace, Kapitalismus, insert random Lebensstil angewandt werden?

Bevor derlei vom Zuschauer beantwortet – oder gar fokussiert – werden kann, ist alles hingeweggespült. Von der nächsten Facette des gleichen Themas: Ist der Mitmensch ein Spiegelbild oder das völlig Fremde? Gibt es Erlösung? Wer erlöst dann wen? Was sind toxische Objekte? Etwas vermeintlich Wichtiges winkt uns grinsend aus der Flut entgegen, wir winken nicht zurück. Wir lachen über das sich drehende Haus und den Verkäufer, dem man nicht „Matratze“ sagen darf, da er sich sonst eine Tüte über den Kopf stülpt. Wir lachen über den Verkäufer, der dann selbst “Matratze” sagt. Immer wieder will das Publikum lachen. Die Gebetsmühle brummt. Im glitzernden Lamettavorhang ist ein Sturm aufgezogen. Und den Füller haben wir uns an der Kasse geliehen.

Gasoline Bill in den Kammerspielen München

Regie: René Pollesch

Darsteller: Kristof Van Boven, Sandra Hüller, Katja Bürkle, Benny Claessens

Hier geht es zu den weiteren Vorstellungsterminen

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