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Night on Earth – Tahrir Square in Kairo

Kairo

Tahrir Square, Zentrum der Proteste in Kairo, ist buchstäblich zum Platz des Volkes geworden, und Euphorie macht sich breit. Ein Interview mit Ahmed Zeidan, Fotograf und Filmemacher aus Kairo

Montag 31. Januar, 1:53h

An Schlaf denken die wenigsten: während etliche der Demonstranten die Ruhe der Nacht nutzen, um in selbstorganisierten Gruppen für Ruhe und Ordnung in der Nachbarschaft zu sorgen, und einige wenige Trittbrettfahrer, die sich von der Regierung beauftragten Ruhestörern und Schlägergruppen angeschlossen haben, von weiteren Plünderungen abzuhalten, übernachten viele auf dem Platz.

Auch in der sechsten Nacht seit Beginn der Aufstände in Ägypten sind die Menschen nicht nach Hause gegangen.

„Es ist wunderbar zu sehen, wie diese Proteste uns vereinen und wie die Menschen Eigenverantwortung übernehmen“, sagt Ahmed Zeidan, Fotograf und Filmemacher aus Kairo, der anfangs wie viele andere nicht so recht daran glauben konnte, dass die Ägypter wirklich genug Courage aufbringen würden, für ihre Sache einzustehen. „Leute schwärmen aus und sammeln Müll, an jeder Straßenkreuzung steht jemand und regelt den Verkehr, da die Polizei momentan komplett aus dem Stadtbild verschwunden ist, aber das ist gar nicht unbedingt nötig, weil die Fahrer so umsichtig fahren wie noch nie – kaum einer hupt, man kann es fast nicht glauben!“

Immer größer wird die Hoffnung, dass sich nun tatsächlich etwas ändern wird. Auf dem Platz herrscht eine friedliche, fast festliche Atmosphäre. Die Leute sitzen um Lagerfeuer, teilen Essen und Telefonkarten, die angesichts der geschlossenen Geschäfte und mangels Warenlieferungen immer knapper werden, und fühlen sich trotz der Kommunikationsblockade (seit Freitag sind alle SMS-Services gesperrt, Mobiltelefone funktionieren nur sporadisch und das Internet ist vollständig blockiert) nicht allein gelassen. Die Welt blickt nach Ägypten, und viele haben versucht, den Ägyptern zu versichern, dass ihre Anstrengungen wahrgenommen werden. „Tahrir Square gehört uns, ich bin gerade im Zentrum der Welt“, ruft Zeidan ins Telefon, und berichtet dann von Scharfschützen, die um wichtige Gebäude postiert sind und etliche Menschen, Demonstranten wie unbedarfte Passanten, erschossen haben. Die Tränengasattacken der letzten Tage sind zur Selbstverständlichkeit geworden, mit der die Menschen so gut sie können umzugehen versuchen, die Ausgangssperre wird vollständig ignoriert, und die Leute schlafen in Schichten, wenn überhaupt.

„Es ist gerade ein bisschen wie ein Regenbogen-Familien-Treffen, oder zumindest stelle ich mir das so vor“, sagt Zeidan morgens um 2h. Die Leute auf dem Platz singen, alle gehen respektvoll miteinander um und fühlen sich als Brüder und Schwestern eines Volkes. Eine bekannte Schauspielerin hat sich ein paar Meter weiter zum Schlafen gelegt, ohne Kopftuch oder Schleier, Seite an Seite mit armen Männern aus der Unterschicht – undenkbar noch vor einer Woche. Sexuelle Überschreitungen, sonst ein allgegenwärtiges Übel bei Menschenansammlungen, kommen so gut wie nicht vor, außer von Seiten der Polizei.

„Wir fragen uns, wozu wir bisher überhaupt Polizei gebraucht haben, die Leute können das alles selbst viel besser“, sagt Zeidan, und fügt hinzu, dass dieser Zustand sicher nicht für immer anhalten wird. „Die Leute werden irgendwann wieder zur Normalität zurück kehren, werden sich wieder streiten und ärgern – aber es ist wunderbar zu sehen, dass die Ägypter all diese kleinlichen Befindlichkeiten, persönliche, politische oder religiöse Unterschiede vergessen können, um gemeinsam für ihr Land, ihre Freiheit und ihre Zukunft zu kämpfen. Zum ersten Mal bin ich wirklich stolz auf mein Volk.“

Nach der Ruhe der Nacht wird es morgens weitergehen mit den Protesten, und für Dienstag gibt es erneut einen Aufruf zur „größten ägyptischen Demonstration aller Zeiten“, angestrebt ist eine Million Menschen auf den Straßen. Die Ägypter sind fest entschlossen, die Proteste erst mit der Abdankung Mubaraks und einem vollständigen Regierungswechsel zu beenden, eine andere Lösung ist inakzeptabel. Lebensmittel und sonstige Güter werden knapp und es wird weitere Tote geben. Die Kommunikation wird immer schwieriger ohne Internet und bald möglicherweise auch völlig ohne Mobiltelefone, die Organisation weiterer Proteste funktioniert über Hörensagen und Mund-zu-Mund-Nachrichten. Die Regierung tut alles, um ihr Volk einzuschüchtern und falsche Informationen zu streuen, der neutrale Nachrichtensender Al Jazeera wurde gestürmt und teilweise geschlossen, und nationale Nachrichten verbreiten Bilder von plündernden Horden und sinnlosem Vandalismus – selbstverständlich ohne hinzuzufügen, dass bei einem dieser Vandalentrupps, der von selbsternannten Ordnungshütern aus dem Volk gestoppt wurde, State IDs gefunden wurden.

Doch die Menschen sind bereit, weiterhin Opfer bringen, sich Polizeigewalt, Tränengas, scharfer Munition und Entbehrung zu stellen, getragen von einer Welle der Zuversicht und Entschlossenheit.

„Es geht weiter“, versichert Zeidan, und erklärt, fast erstaunt: „zum ersten Mal in meinem Leben fühle ich mich in Ägypten zuhause.“ Dann legt er auf, um noch ein paar Stunden Kraft zu schöpfen, an einem der Lagerfeuer im Zentrum der Welt, Tahrir Square, Kairo, bevor es morgens weiter geht.

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