Leben

Sie schneidern sich ihr eigenes Leben

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Das Münchner Modeatelier „La Silhouette“ bietet benachteiligten jungen Frauen einen Einstieg in die Arbeitswelt. Und gibt Antworten auf die Frage: Wie funktioniert Integration? Ein Atelierbesuch.

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Der erste Satz ist immer der schwerste. Das gilt auch für Yalda und Sabrina, die in einem Nebenraum der Maßschneiderei „La Silhouette“ über dem Einstieg in ihr Referat brüten. Was ist eigentlich Integration? Und wie funktioniert sie? Diese Fragen sorgen nicht nur bei den beiden Mädchen aus Afghanistan und der Türkei für rauchende Köpfe, sondern werden in der ganzen Republik heiß diskutiert. Dabei liegt die Antwort eigentlich ganz nahe, ein Rundgang durch die angrenzende Schneiderwerkstatt würde schon reichen.

„La Silhouette“ bietet Ausbildungsplätze für benachteiligte jungen Frauen, die sonst kaum eine Chance auf dem Arbeitsmarkt hätten. Sie kommen aus Pakistan und Nigeria oder sind aus Somalia und dem Irak geflüchtet – bei „La Silhouette“ werden nicht nur Stoffe gewoben und Kleider genäht, hier verschmelzen auch unterschiedlichste Kulturen zu einer großen Gemeinschaft.

Multikulti ist gescheitert? Yalda ist anderer Meinung: „Wir sind wie eine Familie, wir leben miteinander und lernen voneinander.“ So verschieden die Mädchen auch sein mögen, zwei Dinge haben sie gemeinsam: die Begeisterung für Mode wie auch die schwierigen Lebensverhältnisse. Alle stammen aus sozial schwachen Familien am Rande der Gesellschaft, viele sind Kriegs- oder Krisenflüchtlinge, haben nur eine befristete Aufenthaltsgenehmigung und müssen die Abschiebung fürchten.

Die Bildungschancen sind in Deutschland nach wie vor ungleich verteilt: Rund anderthalb Jahre müssen Jugendliche mit Migrationshintergrund im Durchschnitt auf eine Lehrstelle warten, sechsmal länger als gleichaltrige Deutsche. Genau das war der Grund, warum die heutige Geschäftsführerin Barbara Hemauer-Volk Mitte der 80er-Jahre die Initiative ergriff: „Selbst mit guten Schulnoten hatten diese Mädchen keinerlei Perspektive. Das konnte man ja nicht mit ansehen.“

Also übernahm sie eine alte Schneiderei, gründete den Verein „Junge Frauen und Beruf“ und schuf die fehlenden Ausbildungsplätze einfach selbst. Seitdem haben 123 Gesellinnen die dreijährige Lehrzeit begonnen – und genauso viele haben sie erfolgreich abgeschlossen, durchgefallen ist keine Einzige. Ob sie ein Modedesignstudium anschließen, ihre Meisterprüfung ablegen oder direkt in den Beruf einsteigen, fast alle können weiter vermittelt werden.

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Kein Zufall, denn „La Silhouette“ ist weit mehr als ein bloßer Ausbildungsbetrieb. Nicht nur Schneidern steht auf dem Stundenplan – die Mädchen erhalten hier Sprachunterricht und Nachhilfe für die Berufsschule, Mitarbeiterinnen begleiten sie aufs Jugendamt, helfen bei schwer verständlichen Formalitäten oder unterstützen sie bei der Wohnungs- und Jobsuche.

Ganz wichtig sind auch die Ehemaligen-Stammtische, bei denen sich mehrere „La Silhouette“-Generationen treffen und über ihre gemeinsamen Erfahrungen austauschen. Frühere Absolventinnen dienen als Vorbilder, an denen sich die Schülerinnen orientieren, die ihnen zeigen, dass sie es schaffen und ihre Zukunft selbst gestalten können.

„Die Zeit bei „La Silhouette“ hat mich verändert“, sagt die 18-jährige Sabrina, deren zweites Lehrjahr gerade begonnen hat. „Ich bin jetzt ruhiger und weniger aufbrausend. Einfach ein bisschen reifer, glaube ich. Aber ich weiß auch, dass ich etwas kann, habe meine Kreativität entdeckt und sehe jeden Tag die Ergebnisse und Erfolge meiner Arbeit. Das ist toll!“ Ähnlich wie Sabrina geht es fast allen der jungen Frauen, sie entwickeln Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten, werden sicherer und selbstbewusster im Umgang mit anderen.

Eine Sache sei dabei besonders wichtig, betont Barbara Hemauer-Volk: „Streiten, die Mädchen müssen lernen zu streiten! Sie bekommen in ihrem Leben nichts geschenkt und müssen sich alles erkämpfen.“ Die schwierige Suche nach einem Ausbildungsplatz, die ausbleibende Anerkennung für ihre Arbeit, die Emanzipation von der klassischen Rollenverteilung in ihren Familien, wo berufstätige Frauen auf Unverständnis stoßen: Der Weg der angehenden Schneiderinnen ist gezeichnet von Konflikten.

„Ohne eine ordentliche Streitkultur geht gar nichts. Es braucht die richtige Balance aus Durchsetzungsfähigkeit und Kompromissbereitschaft und da kommt unser kunterbunter Schmelztiegel der Kulturen doch gerade recht: 16 Mädchen aus aller Welt, jede Einzelne mit anderen Interessen und Eigenarten. Wir kabbeln und zanken uns, teilen Frust und Freude, lachen und weinen miteinander. Das ist kein wohlbehüteter Mikrokosmos, sondern schlicht und einfach das Leben.“

Ihren Gesellenbrief bekommen die Auszubildenden bei „La Silhouette“ wahrlich nicht geschenkt. Um halb neun geht’s in der kleinen Küche des Ateliers los. Gemeinsam mit Hemauer-Volk und den vier Meisterinnen werden die anstehenden Aufgaben besprochen und ein Tagesplan ausgearbeitet. Wenn Kundenaufträge warten, dann rattern die Nähmaschinen. Wenn Lernstoff für die Berufsschule gepaukt werden muss, dann rauchen die Köpfe. Und erst um 18:00 wartet der wohlverdiente Feierabend.

Die Arbeit ist dabei genauso vielfältig wie die Biographien der Mädchen: Dirndl fürs Oktoberfest, Kostüme für Geschäftsreisende, die Bekleidung für die freiwilligen Helfer bei der Fußballweltmeisterschaft oder das Repräsentationsoutfit für die erste afghanische Frauenfußballmannschaft, für genügend Abwechslung ist gesorgt.

Und manchmal stehen ganz besondere Termine an, so wie bei der Verleihung des bayerischen Integrationspreises. Für die Veranstaltung im Hubert-Burda-Saal der Israelitischen Kultusgemeinde bereiteten die Auszubildenden eine Modenschau vor. Sabrina erinnert sich an die Preisverleihung: „Am Anfang war ich total nervös, weil ich vor all den Leuten singen musste. „Dear Mr. President“ von Pink. Aber der Abend war wunderschön. Und dass wir gewonnen haben, ist natürlich auch super.“

Auch für Barbara Hemauer-Volk ist der Preis eine schöne Anerkennung für 25 Jahre unermüdlichen Einsatz und ein Ansporn für weiteres Engagement. Doch sie sagt auch: „Vor vier Jahren hat die UN-Menschenrechtskommission Deutschland ein ernüchterndes Zeugnis ausgestellt“. Unser Schulsystem stelle eine de facto Diskriminierung von jungen Migrantinnen und Migranten dar, so lautete damals die Feststellung der Resolution. „Wir stellen bis heute keine Veränderung fest. Unsere Bildungsstrukturen sind undurchlässig und Chancengleichheit ist nicht gegeben, da muss sich noch einiges bewegen! Mit einmal Fingerschnippen ist es nicht getan, es wartet noch jede Menge Arbeit auf uns.“ Fest steht jedenfalls: Sollte der nächste Bericht der Vereinten Nationen mehr Anlass zur Hoffnung geben, dann haben die Mitarbeiterinnen eines kleinen Modeateliers in München-Haidhausen ihren Teil dazu beigetragen.

Fotos: Sonja Peteranderl

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