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Warten auf das, was übrig ist

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Der Boom der Lebensmittel-Tafeln ist auch ein Alarmzeichen für wachsende Armut.


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Beruflich geht Fred Weiland in den Supermarkt durch den Hintereingang. Von Warenrampe zu Warenrampe, von Lager zu Lager. Dorthin, wo zwischen Müllcontainern und Pappkartons auf einem Rollwagen in der Ecke seine Ware steht. Jedes Paket in den durcheinander geworfenen Kisten reißt Fred Weiland auf, schmeißt verfaulte Früchte und abgelaufene Milchtüten beiseite und verstaut die übrigen Tomaten, Salate, Brote und Joghurts im Lieferwagen. Alles muss schnell gehen. Bis zum Mittag muss er wie alle Helfer der Münchner Tafel zurück in der Zentrale an der Großmarkthalle sein. An über 80 Ausgabestationen warten in einer der reichsten Städte Deutschlands jeden Nachmittag Arbeitslose, Rentner, allein erziehende Mütter und andere Bedürftige auf die aussortierten Lebensmittel.

Was Supermärkte nicht mehr verkaufen dürfen, sammeln die Mitarbeiter der Münchner Tafel seit 15 Jahren ein und verteilen es an Menschen, die von Sozialhilfe leben. Fast 180 000 Einwohner müssen in München mit weniger als 50 Prozent des durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommens auskommen. Die Vorsitzende der Münchner Tafel, Hannelore Kiethe, sieht ihre Einrichtung als „Stütze für bedürftige Menschen“. „Wir sorgen nur dafür, dass die Ernährung der Leute ergänzt wird“, sagt sie.

In Amerika entstanden in den 80er Jahren die so genannten City Harvest-Projekte. 1993 wurde die erste deutsche Tafel in Berlin gegründet. Mittlerweile gibt es über 800 davon in ganz Deutschland. Dort, wo sich Leute sammeln, um Übriggebliebenes zu verwerten, sind die Tafeln zum Inbegriff von dargestellter Armut geworden. Ihren Boom sieht der Bundesverband Deutsche Tafel e.V. auch als „ein Armutszeugnis unserer Sozialpolitik“, wie die Pressesprecherin Anke Assig sagt. Mehr als 200 neue Tafeln sind seit April 2007 entstanden. Mehr als eine Millionen Menschen, die von Sozialhilfe leben, holen sich Woche für Woche ihre Ration an einer der Ausgabestellen ab. Obwohl immer mehr Supermärkte ihre Ausschussware den Tafeln überlassen, kommen die größtenteils ehrenamtlichen Mitarbeiter kaum nach, den Bedürftigen genug Lebensmittel zu bieten. Wenn wie nach Weihnachten weniger in den Märkten übrig bleibt oder die Konzerne weniger produzieren, bleiben auch die Sammelfahrzeuge der Tafeln leerer.

Gerade in wirtschaftlich schwierigen Zeiten müssen die Mitarbeiter der Münchner Tafel rationieren, aufpassen, dass jeder etwas abkriegt. Vor der Erlöserkirche in Bogenhausen, die Fred Weiland jeden Donnerstag beliefert, hat Horst Schmid, der Leiter der Verteilstation, ein rotierendes System nach Nummern eingeführt. Um seinen Helfern – Feuerwehrleute, Ärzte und Rentner – den Ãœberblick zu erleichtern. Der Andrang ist groß, die Kisten am Ende immer leer. Häufig reihen sich mittlerweile auch „Gebildete und Akademiker“, wie Schmid sagt, hinter dem roten Band auf, das die Leute mit ihren Kofferwagen an den Tischen mit Gemüse, Obst, Brot und Fleisch vorbeiführt.

Aus einer Studie, die die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) im Oktober 2008 vorgestellt hat, geht hervor, dass der Anteil der armen Menschen an der Bevölkerung in Deutschland in den vergangen Jahren deutlich schneller zugenommen als in den meisten anderen OECD-Ländern. Unter den allein erziehenden Eltern weist Deutschland nach Japan, Irland, USA, Kanada und Polen die fünfthöchste Armutsquote auf. Die hohe Arbeitslosigkeit hat in Deutschland noch mehr als in anderen Ländern zu immer ungleicheren Einkommen beigetragen. Immer schneller wandert die Armut vom Land in die Städte.

In strukturschwächeren Regionen, besonders in Ostdeutschland, haben die Mitarbeiter der Tafeln große Probleme, um an genügend Spenden zu gelangen. Die einzelnen Einrichtungen finanzieren sich selbständig durch Spenden und sind auf die Unterstützung der jeweiligen Städte und Gemeinden angewiesen. Der Bundesverband versucht in Absprache mit den Konzernleitungen der Supermärkte das Angebot der Spender zu steuern. Doch immer mehr Tafeln in immer kleineren Gemeinden machen die Organisation schwer. Teilweise fahren mehrere Tafeln dieselben Spender an. Die Märkte können dadurch auch die Kosten für die Entsorgung reduzieren. Dabei gelangt immer noch nur ein kleiner Prozentteil der überproduzierten oder falsch kalkulierten Ware zu den Tafeln. Viel zu wenig, wenn es nach den Tafeln geht. Schon jetzt, schätzt Anke Assig, sinkt die Menge an Spenden pro Bedürftigem von Monat zu Monat.

Also kaufen die Tafeln von den Spendengeldern auch immer mehr Lebensmittel zu. „Ich glaube, wir haben noch nie so viel Geld ausgegeben wie in letzter Zeit, sagt Fred Weiland, der jetzt häufiger Brot von einem Großbäcker abholen muss. Er spürt die wachsende Not im Heckraum seines leerer werdenden Lieferwagens, mit dem er seit fünf Jahren ausfährt. „Viele Leute sagen mir auch offen, dass sie Angst haben. Die meisten jedoch sind verschwiegen und wollen nicht erzählen, wie sie in die Situation geraten sind.“ Leih- und Zeitarbeit sowie geringfügige Beschäftigung haben die Arbeitslosenzahlen in der Vergangenheit geschönt. In München waren im August fast 62 000 Menschen ohne Job. Wenn die Arbeitslosigkeit weiter ansteigt, befürchtet Anke Assig, „dass auch die Tafeln in den einzelnen Städten deutlich davon betroffen sein können.“

Um wirtschaftlicher arbeiten zu können, ernennt der Bundesverband mittlerweile Landesvertreter, die beraten sollen, an welchen Stellen in den einzelnen Bundesländern es sinnvoll ist, eine neue Tafel zu gründen. Doch ihnen bleibt immer nur das Reagieren auf die Entwicklung der Wirtschaft und der Armut in den verschiedenen Regionen Deutschlands. Am Ende einer langen Kette können sie nur das aufnehmen, was in einer Überflussgesellschaft übrig bleibt.

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