Leben

Ein Griff ins Leben

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Klettern kann zum Herzensretter werden. Eine Reportage.

Auf ihr Herz muss sie jetzt nicht mehr hören. Das ist die gute Nachricht für Stephanie Schmidt. Wenn ihr Herz zu schnell oder zu langsam schlägt, sendet der Defibrillator Stromstöße aus, damit der Rhythmus wieder stimmt. Doch daran denkt Stephanie Schmidt nicht, wenn sie an der Kletterwand hängt und sich von Griff zu Griff zieht. Vergessen, dass ein  Herzschrittmacher dafür sorgt, dass genügend Sauerstoff durch ihren Körper gepumpt wird. „Ich denke daran, wie ich am besten Arme und Hände koordinieren kann“, sagt die 24-Jährige.

Vor sieben Jahren noch ist sie ständig hingefallen, wenn sie versuchte zu laufen. Ihr räumliches Vorstellungsvermögen war wie ausgelöscht. Sie hatte Halluzinationen. Matheunterricht war für sie eine Qual. Von Rehaklinik zu Rehaklinik ist sie gefahren worden. Erst nach Bremen und dann schließlich nach München. Hier ist sie dann vor drei Jahren in eine Wohngruppe gezogen. Seit einigen Monaten lebt sie allein in ihrer eigenen Wohnung. „Ich bin ja nicht geistig behindert. Man muss sich einfach vorstellen, dass ich wie ein Kind noch mal von vorne anfangen musste“, sagt sie.

Herausforderungen suchen: Die Kletterhalle als Therapiestation

Herausforderungen suchen: Die Kletterhalle als Therapiestation

Auf die Klettertherapie ist sie durch die Volkshochschule gekommen, die ihr eine Schnupperstunde angeboten hat. Seitdem steigt sie einmal in der Woche in den fast 20 Meter hohen Schacht in der Kletterhalle am Ostbahnhof. Nein, Angst, hat sie nicht. Zweimal ist sie schon von den Griffen abgerutscht und ins Seil gefallen. „Aber es passiert ja nichts“, sagt eine, die einen Herzstillstand hatte und danach ins Wachkoma gefallen ist.

Erinnerungen daran hat sie nur wenige. „Erst als ich schon ein paar Wochen in der Klinik war, sind die Erinnerungen zurückgekommen.“ Sechzehn Jahre alt war sie damals. Nach dem Hürdenlaufen bei den Bundesjugendspielen ist ihr Herz einfach stehen geblieben. Sauerstoffmangel im Gehirn. Ihre Lehrer haben sie wieder belebt und sofort den Notarzt gerufen. Erst in der Klinik entdeckten die Ärzte, dass sie einen angeborenen Herzfehler hat. Seitdem weiß sie, dass sie auf ihren Körper aufpassen muss. Der Herzschrittmacher hilft ihr dabei. Auch, wenn sie in der Kletterwand hängt und Stück für Stück nach oben steigt.

Den eigenen Weg finden

Stephanie Schmidt hat entschieden, dass Sport ihr helfen soll, wieder in ein normaleres Leben zurückzukehren. Ihre Trainerin, Ulli Dietrich, ist davon überzeugt, dass Stephanie durch ihr Training auch Ängste aus dem Alltag bewältigen kann. „Klettern hat einen relativ hohen subjektiven Angstfaktor und birgt kaum objektive Gefahren.“, sagt sie. Ulli Dietrich ist beeindruckt von den sportlichen Fortschritten, die ihre Patientin macht. „Es sind wirklich Welten. Die Ansteuerung ist viel besser. Sie kommt viel leichter die Wand hoch. Eine tolle Entwicklung.“

Mittlerweile ist Stephanie Schmidt 24, hat einen Freund und arbeitet. Sie malt Bilder und bearbeitet Fotos. Auf Ausstellungen hat sie einige ihrer Bilder präsentiert. „Eigentlich ist mein Leben ganz ok“, sagt sie. Wenn Stephanie Schmidt spricht, ist ihre Stimme leise. Ihre Wörter legt sie sich gut zurecht, redet bedächtig. Wenn sie die Treppe heruntersteigt, hält sie sich am Geländer fest, setzt vorsichtig einen Fuß vor den anderen. Wenn sie sich an der Kletterwand von einem Griff zum nächsten zieht, wirken ihre Bewegungen geschmeidig und automatisiert.

Von ihrem Unfall erzählt Stephanie Schmidt als ob sie das schon hundert Mal gemacht hätte. Wie ein Fakt aus ihrem Lebenslauf. „Ich war im Rollstuhl, konnte nicht gehen, Wenn ich zwei Jahre zurückblicke und sehe, was ich jetzt kann, ist das ein riesiger Unterschied.“ Inzwischen klettert sie in der Trainingsstunde fast jedes Mal zweimal die Wand hoch. Bis sie kaum noch  zu erkennen ist. Ihre Trainerin Ulli Dietrich steht unten am Seil zum Sichern und blickt nach oben in den Schacht. „Sie lernt immer mehr, ihren eigenen Weg zu finden.“

Selbstbewusstsein für den Alltag

Mit Sporttherapie versuchen die Trainer mittlerweile ganz verschiedene Probleme anzugehen. Die Trauer, wenn jemand aus der Familie gestorben ist. Bei Problemen in der Schule. Immer geht es auch darum, Selbstbewusstsein und Vertrauen zu gewinnen und seine eigene Leistungsfähigkeit zu erfahren. „Ich kannte ja Stephi vor dem Unfall nicht“; sagt Ulli Dietrich. „Aber sie ist von Natur aus eine so starke und offene Persönlichkeit, dass sie sich eigentlich allein aus dem Mist gezogen hat. Sie ist eine Kämpferin.“

Wenn sich Stephanie Schmidt die Achterknoten an ihrem Kletterseil bindet, muss ihr Ulli Dietrich noch ein bisschen die Hände führen. Die Feinmotorik braucht am längsten, bis sie wieder funktioniert. Schuhe binden, die vor Anstrengung noch zitternden Hände schütteln, die ersten Griffe finden. Dafür steht Ulli Dietrich ihre Patientin zur Seite. Wenn sie erst einmal in der Wand ist, kann sie nicht mehr viel helfen. Will sie auch gar nicht.

„Ich lerne meine Grenzen selber kennen“, sagt Stephanie Schmidt. „Ich versuche ihr einen Raum zu bieten, in dem sie sich selber ausprobieren zu lassen“, sagt ihre Trainerin. Beide lernen voneinander. Beide wissen, dass ihre Arbeit ein Verhältnis auf Zeit ist. „Wann Schluss ist, muss sie selber wissen“, sagt Ulli Dietrich. Inzwischen weiß Stephanie Schmidt, dass sie ihrem Körper wieder vertrauen kann. Daran wird sie sich an jetzt erinnern.

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