Leben

„Kein ausg’schamtes Haus“

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Am Original-Schauplatz von Sigi Sommers Roman „Und keiner weint mir nach“

München. Es war ein Tag wie viele im Leben von Sigi Sommer. Der Kolumnist war unterwegs, „G’schichterl“ schreiben, Stimmungen einfangen für seinen Auf-traggeber, die Münchner Abendzeitung. Wie so oft führte ihn dabei sein Spazier-gang über die Isar, direkt in das ärmliche Arbeiterviertel Untergiesing, damals als Glasscherbenviertel verschrien. Doch an jenem Tag bog Sommer nicht direkt in die Voßstrasse mit den matschgrünen Häuserblocks und seinen Arbeiterwohnungen ein. Er ging direkt weiter in die Mondstraße. Vor dem Haus mit der Nummer 26 machte er halt. Klingelte. Eine Frau öffnete.

60 Jahre später sitzt ihr Enkel in seiner geräumigen Wohnküche in der Mansar-denwohnung in eben jenem Haus. Der heute 47 Jahre alte Stefan Hammerstingl erinnert sich gut an die Erzählungen seiner Großmutter. Damals, als der Sigi Sommer auch bei ihnen recherchierte. Wenige Jahre später wird das Mietshaus als Mondstraße Nr. 46 in Sommers Roman „Und keiner weint mir nach“ erscheinen. Nachdem seine Großmutter die Tür geöffnet hatte, zeigte die Hausbesitzerin aus der Parterrewohnung dem Journalisten bereitwillig ihr Haus, plauderte über die eine oder andere Begebenheit. „Mir sind fei kein ausg`schamtes Haus“, sei ihr wichtig gewesen zu betonen, erinnert sich der Enkel. Bereits zu dieser Zeit ist der Kolumnist Sigi Sommer für seine genauen und schonungslosen Beschreibungen bekannt. Die Chronik eines für jene Zeit typischen Mietshauses und seiner Be-wohner erscheint 1953. Bertolt Brecht nennt sie den „besten Roman, der nach dem Krieg in Deutschland geschrieben wurde.“ Regisseur Joseph Vilsmeier ver-filmt die Geschichte 1996 – allerdings in einem Filmstudio in Prag.
Als Stefan Hammerstingl das Buch vor 15 Jahren zum ersten Mal in Händen hält, erkennt er sofort die Parallelen. „Ich bin mir ziemlich sicher, dass das bei uns war“, sagt er. Und wie seine Großmutter vor sechzig Jahren gewährt auch er bereitwillig Einblick in das Mietshaus, das genauer gesagt aus zwei Häusern, dem Vorder- und Rückgebäude, besteht. Dabei erzählt der Enkel jene Anekdote, die wohl schon die Großmutter Sigi Sommer erzählt haben muss. Die Begebenheit findet sich in leicht abgeänderter Form in dessen Roman wieder. Hammerstingls Ur-Großvater habe als Kind einmal versucht, das Bettlaken aus seinem Fenster in der Wohnung im Rückgebäude auszuschütteln. Da sei der Stoff geradewegs in die Baumwipfel des Kastanienbaumes im Hof hängen geblieben. Einer noch dünnen Wipfel wurde dabei mit herab gerissen. Hammerstingls Urgroßvater hieß Jakob Rupp.
Sigi Sommer schreibt später in seinem Roman: „Nur der Bubi Rupp, dessen Bal-kon fast in die Baumwipfel mündete, überlegte sich manchmal, ob die Äste bre-chen würden, wenn er einmal in naher Zeit von den Blumenkisteln aus hinübers-pringen würde.“ Der alte Kastanienbaum, der im Roman zur Ulme wird, steht noch heute im Innenhof der Mondstraße Nr.46. Im Schatten des meterhohen Baumes hat Hammerstingl einen Radschuppen gebaut. Zu Zeiten des Ur-Großvaters Rupp befand sich an selber Stelle der Baustoffhandel. Im Roman als der „Müllersche Werkstattschuppen“ bezeichnet, dessen Ziegeldach die „Früch-terl“ aus der Mondstraße als Zielscheibe für ihre Steinschleuder hernahmen.
Längst existiert der Baustoffhandel nicht mehr, der dazugehörende Werkstatt-schuppen ist geblieben. Stefan Hammerstingl ist gelernter KFZ-Meister. Vor eini-gen Jahren hat er dort noch Motorräder repariert. Jetzt erledigt er die Reparaturen, die in seinem Haus anfallen. Über der Werkbank wacht der strenge Blick seines Ur-Großvaters, eine Schwarz-Weiß-Fotografie, beinahe so groß wie das Fenster des Schuppens, gefasst in einem Rahmen aus dunklem Holz.
Jener Ort, den der Bubi Rupp einst aus Furcht vor dem Besitzer nicht betrat, ist für die heutigen Kinder ein wahres Paradies. Wann immer die Buben seiner Bekannten zu Besuch sind, geht Meister Hammerstingl mit ihnen auf „Pumuckl-Suche“. Eigene Kinder hat der Hausbesitzer jedoch keine. Auch unter den übrigen Bewohner der sechs Parteien in Vorder- und Rückgebäude gibt es kein einziges Kind. Keine „Früchterl“ ärgern mehr die Nachbarn mit ihren Streichen wie es die Mondstraßler in Sommers Roman getan haben. „Die alte Zeit war vorbei. Niemand hatte sie gehen sehen, aber eines Tages war sie einfach nimmer da. Ent-schwunden“, endet der Roman in der Nachkriegszeit. Ganz selten sah man in dem alten Hof noch ein Kind spielen. In dem Haus, wo es kaum einen Wohnungs-wechsel gegeben hatte, da die Mieter ihren „gewohnten Wirsching-Mief“ nicht gern mit fremden „Rinderfett-Geranzel“ vertauschten, zogen neue Mietsparteien ein. „Wie eine frostige Keule in die warme Wohngemeinschaft.“
Auch Stefan Hammerstingl ist ein wenig betrübt darüber, dass nur noch selten gegrüßt wird beim Vorübergehen. Seine Mieter wohnen meist nur für kurze Zeit in dem Haus. Die Wohnungen beschränken sich auf ein bis zwei Zimmer. Früher musste dieser Platz für eine ganze Familie reichen. Wo früher die Arbeiter lebten, wohnen heute größtenteils Studenten oder Pendler, die ihr eigentliches Zuhause woanders haben.

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