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Avocado/Nachkriegszeit: Ein Blick in Münchens Zukunft

Florian Kappelsberger

Wir schreiben das Jahr 2057: Die EU ist zerfallen, Deutschland hat die D-Mark wieder eingeführt, globale Pandemien sind zur Routine geworden. Im Sommer wird München von Hitzewellen überrollt, die Wohnungsnot ist akuter als je zuvor und die Frauenkirche ist zu einer exklusiven Eventlocation umgewandelt worden. Zugleich ist die soziale Spaltung gewachsen, während sich die reichen Bewohner*innen der Stadt in ein Villenviertel auf dem Giesinger Berg zurückgezogen haben.

Dieses Szenario zeichnet die Debüt-Novelle Avocado/Nachkriegszeit des BR-Journalisten Thomas Moßburger. Im Mittelpunkt steht das Paar Yeter und Alexander, die der Weltbürger-Bewegung angehören. Ihre Mitglieder haben sich von sämtlichen Staaten losgesagt und genießen relativ große Unabhängigkeit, allerdings werden sie streng überwacht und dienen den Nationalisten (‘Natis’) als Sündenböcke. Ausgehend von einem harmlosen Witz, der zu einem tragischen Unfall führt, wendet sich die Erzählung um Yeter und Alexander in eine Verfolgungsjagd durch das München der Zukunft.

Weder Utopie noch Albtraum

Spannend werden aktuelle Entwicklungen wie der Klimawandel, das enorme Wachstum der Stadt und die zunehmende Abschottung Europas weitergezeichnet. Hierbei geht es Moßburger weniger um die Prophezeiung der Zukunft als um eine Reflexion zur Gegenwart: “Ich glaube, dass das Buch mehr über das Heute aussagt als darüber, wie es wirklich wird.” Auch einige prominente Personen treten als Randfiguren in dieser Vision des Jahres 2057 auf; aufmerksame Leser*innen stoßen etwa auf Billie Eilish, Apache 207 und die amerikanische Politikerin Alexandria Ocasio-Cortez.

Bemerkenswert ist, dass die Novelle keine erdrückende Dystopie im Stile George Orwells zeichnet. Der 3. Weltkrieg ist vorbei, die Europäische Union ist längst zerfallen, der neue Nationalismus ist bereits zur Normalität geworden. Zugleich kann etwa die Weltbürgerbewegung gewissermaßen als positiver Entwurf für unsere Zukunft gelesen werden. “Es ist nicht die schlechteste Version der Welt”, so der Autor, “es ist aber mit Sicherheit auch nicht die beste Version der Welt.”

Eine Reise durch das München von 2057

Die Erzählung verzichtet auf szenische Ausschweifungen und ist fast vollständig im Protokollstil gehalten, ähnlich einem Theaterstück. Besonders reizvoll ist natürlich ihr lokaler Charakter: ein filmreifes Zukunftsszenario, versetzt in die bayerische Landeshauptstadt – vom völlig umbauten Stadtteil Freiham bis hin zur mittlerweile historischen Hackerbrücke. Auch wenn der Autor klarstellt, kein aktivistisches oder belehrendes Buch schreiben zu wollen, können die Ausführungen zu Nationalismus, Abschottung und Sündenböcken in ihrer Häufung allerdings repetitiv wirken.

Ähnliches gilt auch für die umfassenden Erklärungen, die oft den Lesefluss unterbrechen: Nahezu jedes neue Element, das in der Erzählung eingeführt wird – der Weltbürgervertrag, implantierte Überwachungschips, Technologien wie die Datenbrille – wird von einem darauffolgenden Absatz eingefangen, der seinen Hintergrund detailliert erklärt. An diesen Stellen wünscht man sich, die Bauteile dieser Zukunftsvision würden öfter für sich stehengelassen, damit die Leser*innen sich diese neue Welt selbst erschließen können. Auf nur 122 Seiten sind dem erzählerischen Worldbuilding aber natürlich Grenzen gesetzt, wodurch erklärende Passagen teilweise schlicht notwendig sind.

Erst kam der Titel, dann den Rest des Buches

Insgesamt ist dem Autor eine kluge und spannende Erzählung gelungen, die zeigt, wie unsere Stadt in einer (nicht allzu fernen) Zukunft aussehen könnte. Auch der Name des Buches, der auf den ersten Blick vielleicht kryptisch wirken mag, erklärt sich bereits nach wenigen Seiten. “Den Titel gab es tatsächlich schon, bevor das Buch geschrieben war”, erinnert sich Thomas Moßburger. Was hinter dieser ungewöhnlichen Wortkombination steckt, verraten wir an dieser Stelle allerdings nicht…

Du willst selbst einen Blick auf München im Jahr 2057 werfen? Die Novelle Avocado/Nachkriegszeit ist auf der Website des Verlages erhältlich!


Bilder: © Edition Samoth

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