Kultur, Nach(t)kritik

Demokratisch erzählen

Ina Hemmelmann

Von links nach rechts. Von oben nach unten. Von vorn nach hinten. Seite für Seite (dazwischen umblättern und den Sinn nicht verlieren). So liest man üblicherweise in unseren Breiten ein Buch mit dem Ziel, den Inhalt gedanklich nachzuvollziehen. Wir vertrauen der Erzählstimme und glauben das Fortschreiten einer Handlung. Die Anmaßung / The Presumption durchkreuzt das Vorhaben des ahnungslosen Lesers. Es vereint Schriftstück(e) und Bildband, Werkkatalog und Erzähltheorie. Es hinterfragt konventionelle Wahrnehmungsmuster und reizt die Grenze zwischen Fiktionalität und Faktualität aus. Und es verzichtet auf lineare, sich steigernde Handlungsstrukturen, sondern bietet ein Geflecht aus gleichberechtigt gewichteten Motiven und Themen an.

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Urban Mirror Stage, Fotoreihe 2007. “Man kann das Spiegelstadium als eine Identifikation verstehen […] Als eine beim Subjekt durch die Aufnahme eines Bildes ausgelöste Verwandlung.” Jacques Lacan

In erster Linie könnte man Die Anmaßung / The Presumption als ein Künstlerbuch beschreiben. Zöge man sich mit dieser Kategorisierung doch relativ einfach aus der Affaire, denn die Minimaldefinition für ein Künstlerbuch umfasst lediglich ein von einem Künstler gestaltetes Buch. Der Künstler und Autor, der besagtes Buch zu verantworten hat, ist Franz Wanner.

Bis 2008 studierte er an der Akademie der Bildenden Künste München und schloss nicht nur mit dem Staatsexamen, sondern auch mit dem Freiflugdiplom ab. Seit dem Jahr 2000 arbeitet er nach eigener Auskunft unter dem Künstlernamen Franz Wanner. In den vergangenen Jahren führten ihn Ausstellungen unter anderem auch nach Tölö, London und New York, wo er in Gruppenausstellungen und auf Festivals medienübergreifende Arbeiten, Kurzfilme, Fotografien und Videoinstallationen zeigte. Er hält sich gerne im Genre des found footage auf und montiert filmische Sequenzen fremder Regisseure neu, so dass durch Neukombinationen gänzlich andere Bedeutungszusammenhänge entstehen. Franz Wanner ist “ausgebildet in Spektakel, sozialen Phänomenen und urbanem Rauschen”, so die Kurzbiographie am Ende des Buches.

Die Anmaßung / The Presumption stellt nun einen Versuch dar, die bisherigen Arbeiten, Ansätze und Motive aufzubereiten. Ähnlich einem Inhaltsverzeichnis soll das Buch einen bestimmten Werkabschnitt und darin reflektierte Motive und Themen zugänglich machen. Es zeigt Fotografien und Bildsequenzen aus Videoinstallationen des Autors, versehen mit Bildunterschriften und weiterführenden Informationen sowie teilweise fiktiven Prosatexte, aber auch theoretischen Abhandlungen anderer Künstler und Autoren.
Dabei gliedern sich die Kapitel und Abschnitte nicht wie gewöhnlich chronologisch oder auf einen dramaturgischen Höhepunkt zulaufend. Das Themenverzeichnis auf den ersten Seiten erscheint wie eine Wolke, eine lose Sammlung von Begriffen und Begriffskombinationen, die sich assoziativ aufeinander beziehen. So auch die einzelnen Seiten: sie ordnen sich nicht eindeutig einem bestimmten Motiv zu, sondern bewegen sich ganz nach Blickwinkel des Lesers mehr in die Richtung des einen, dann wieder in die eines anderen Topos. Diese Offenheit wirft den Leser auf sich selbst zurück. Er entscheidet ohne Vorgabe oder Lenkung einer Erzählstimme oder eines Kommentars wie und in welcher Reihenfolge er das Buch “liest”, entwickelt Assoziationen, blättert vor, wieder zurück, überspringt Seiten, liest Textabschnitte, betrachtet dazu wieder den Einband,… Für jeden Leser generiert sich so ein ganz individuelles Geflecht aus Assoziationen und Bedeutungsebenen.

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Biotop, Video 2004. Münchens Innenstadt ist dekoriert mit betonierten Blumenkübeln, die in ihrer Gestaltung an Panzersperren erinnern. Dazwischen sitzen Touristen auf weißen Drahtstühlen, um sich vom Sightseeing zu erholen. Trotz des Arrangements können sie sich nicht in Sicherheit wiegen, denn ein schwer einzuschätzender Bewohner einer Tulpenrabatte macht seine Runde. Begleitet von dessen Fluggeräuschen zeigt die Kamera seine subjektive Sicht, indem sie Bewegungen durch die städtische Zierpflanzung vollzieht und dabei Menschen nahe kommt, die irritiert reagieren.

Das traditionelle Medium Buch reizte Franz Wanner, vor allem seiner Materialität wegen. Er gab ihm den mehrdeutigen Titel “Die Anmaßung”: Zum einen ist der Begriff negativ konnotiert, erinnert an die prägnant-nüchternen Buchtitel Franz Kafkas (Die Anmaßung erhält sogar eine Art Hommage an Franz Kafka mit der Arbeit ‘Kafka Kolor’). Zum anderen darf er ganz wötlich verstanden werden, als der Versuch ein Maß, eine Möglichkeit zu finden, vielfältige Arbeiten anderer Medien angemessen in ein Buch zu übersetzen. Er beschreibt auch die Suche nach Ordnungsmöglichkeiten, die schließlich in einer freien, spielerischen Anordnung mündet, die keine eindeutigen Bedeutungsmuster zuschreibt, sondern in der Schwebe hält. Durch diese freien Assoziationsangebote verzahnen sich die einzelnen Bild- und Textelemente, wenngleich sich der Inhalt auch der Einordnung in bekannte Raster und Schemata entzieht und manche Leser zunächst ratlos zurücklässt. Ein Glück, dass er dann doch das gute, alte Buch in Händen hält, Papierseiten kennt und sich am Pappeinband festhalten kann.

Zwischendurch entsteht beim Lesen der Eindruck, man hält eine Art Ausstellungskatalog in Händen. Die Anordnung der Bilder sowie die formelle Aufbereitung der Bildunterschriften suggerieren dies. Doch immer wieder kippen gerade diese Formalia in die Fiktion und bewirken so eine Verunsicherung beim Leser: Was kann ich glauben? Kann ich meiner Wahrnehmung trauen? Auch diese Gratwanderung zwischen nötiger und überflüssiger, notwendiger und unnötiger Information passt ins Konzept der An-Maßung.

Ein traditioneller Handlungsstrang sowie eine gebräuchliche Inhaltsangabe sind kaum eindeutig formulierbar. Allerdings tauchen immer wiederkehrende Motive und Begriffe auf, die sich auf kreuzenden und schlängelnden Wegen durch die Seiten ziehen. Da wäre zum einen das Themenfeld des Blicks und der Blickkonstellationen, der visuellen Wahrnehmung und ihrer Beeinflussung und Brechung bis hin zum negativen Umschwenken in Kontrolle. Der Blick richtet sich aber auch nach innen, reflektiert Kunst und Künstlerdasein aus verschiedenen Perspektiven. Das Spektakel steht des Weiteren für die Brechung und inszenierte Lenkung des Blicks, besonders durch permanenten Medieneinfluss. Ungewöhnliche Perspektiven auf Stadtansichten oder Medienereignisse wie ein Fußballspiel tragen eine ganze eigene Komik in sich.
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Klappling, Video 2003. Elektronische Berichterstattung über das Finale.
Hier das Video zu Klappling.

Ein weiterer großer Topos ist der Raum, besonders der öffentliche, urbane Raum, seine Nutzung und Strukturierung. Neue Perspektiven auf alltägliche Räumlichkeit fordern die Wahrnehmung heraus. Besonders stark vernetzt mit den übrigen Motiven ist vor allem die Frage und Suche nach Erzählstrukturen: die Reflexion von Narration und Möglichkeiten des Erzählens ohne dramaturgische Konventionen mit Anfang-Höhepunkt-Ende bis hin zur Auflösung aller Struktur und Materialität.

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Franz Wanner
Die Anmaßung / The Presumption
Bielefeld: Kerber Verlag 2011
ISBN: 978-3-86678-583-0
32,90 €

Fotos: (c) Franz Wanner

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