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München ist ein Dorf. Dass es viele der alten Freunde dann doch in die große weite Welt gezogen hat, gehört zum Erwachsenwerden – und wir fühlen uns überall wie zu Hause.

Als ich zur Schule ging, hätte ein Nachmittag gereicht, um jeden meiner Freunde zu besuchen. Mit dem Fahrrad wäre ich durch Freiburg gefahren, einmal reihum durch alle Stadtviertel – das war mein Freundeskreis. Heute müsste ich ihn auf einer Weltkarte einzeichnen, und statt Fahrrad bräuchte ich Interkontinentalflüge. Nach dem Abitur bin ich nach München gezogen. Viele Freunde sehe ich nur noch selten, und dann meistens im Skype-Fenster auf dem Laptop-Bildschirm. Würde ich sie alle gleichzeitig um mich sammeln wollen, müsste ich schon heiraten oder meine eigene Beerdigung ankündigen, aber selbst dann wäre nicht sicher, ob alle kommen könnten.

Fernbeziehungen gelten seit einiger Zeit gemeinhin als die schmerzhafteste soziale Nebenwirkung der flexiblen Arbeitswelt. Über Fernfreundschaften redet dagegen kaum jemand. Dabei erzwingt es unser Lebensstil der permanenten Zwischenlösung längst, sich in Zukunft mit diesem Freundschaftsmodell zu arrangieren. Die Hälfte meiner Lieblingsmenschen hat es in den letzten drei Jahren nach Berlin, Hamburg oder Wien verschlagen. Einige andere machen Auslandssemester in New York oder ein Praktikum in Peking. Ein kleiner Rest hält sich in Phnom Penh oder Santiago de Chile auf, zwecks Selbstfindung oder um „was mit Waisenkindern“ zu machen.

Manche wechseln dabei den Wohnort häufiger als den Liebespartner. Während aber viele Beziehungen früher oder später an großen Entfernungen scheitern, sind enge Freunde, von denen wir durch weite Distanzen getrennt sind, eine Bereicherung: Ihretwegen sind wir überall zu Hause. Mit dem Fernfreund verbinden uns gemeinsame Erinnerungen, mit ihm teilen wir ein Gefühl der Heimat, das er mit ans andere Ende der Welt genommen hat. Denn Heimat ist kein Ort mehr, Heimat ist ein Zustand. Besuchen wir den Fernfreund, fühlen wir uns gleich wieder zu Hause – egal, wie weit weg er wohnt.

Dort hören wir ein Wochenende lang mit ihm die Helden unserer Pubertät, führen Gespräche fort, die wir beim letzten Treffen unterbrochen haben, und lachen über Witze, die schon früher nur wir verstanden haben. Wir begegnen dem Fernfreund in seinem neuen Alltag, einer Abwandlung dessen, was einst auch Teil unseres Alltags war. Zu seinen alten Lieblingsbüchern, die wir schon kennen, hat er neue ins Regal gestellt. Wir erkunden mit ihm die uns fremde Stadt und sehen sie doch immer mit seinem vertrauten Blick. Mit dem Freund finden wir auch hier eine Heimat auf Zeit; ohne ihn blieben wir immer der Tourist mit dem Lonely Planet in der Hand.

So aber hat das antike Ideal des kosmopolitischen Menschen konkrete Gestalt angenommen. Noch für unsere Großeltern war eine Reise nach Rom ein einmaliger Luxus; und unter´Weltbürgern stellte man sich einen elitären Kreis von Dandys vor, die auf Dampfschiffen in tiefen Samtsesseln sitzend den Ozean überquerten. Heute kann sich jeder Arbeitsnomade als Kosmopolit fühlen. Der Metropolenhopper 2010 kann nicht aus Kants „Zur allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ zitieren; dafür weiß er aber, in welcher Straße Londons man für drei Pfund einen All-You-Can-Eat-Inder findet, wie Barcelonas nettester Barkeeper heißt, und dass in Hong Kong die striktesten Anti-Rauchergesetze der Welt gelten. Aus diesem gar nicht mehr so geheimen Wissen entwickelt sich eine Art Lingua franca eines international gültigen urbanen Lebensgefühls. Wer sie spricht, wird überall auf der Welt verstanden, in Prag gleichermaßen wie in Sydney oder Tokio. Irgendwo zwischen provisorisch, prekär und weltläufig – so kann man die Gemütsverfassung beschreiben, die unser ständiges Unterwegssein begleitet.

Dreht sich das Städteroulette weiter, steht der nächste Umzug an. So werden aus manchen Fernfreunden irgendwann wieder Nahfreunde. Vielleicht ziehen sie in unsere Stadt, vielleicht verschlägt uns eine neue Arbeit in ihre. Das Schöne daran: Wir könnten sie wieder mit dem Fahrrad besuchen, jetzt aber hätte jeder von uns schon einmal die Welt umrundet.

Text: Xifan Yang
Foto: Jonas Müller (www.jugendfotos.de)

Dieser Artikel ist im Volt-Magazin erschienen, dem Abschlussmagazins der 48. Lehrredaktion der Deutschen Journalistenschule.

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