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„Ich kann bei sowas einfach nicht wegschauen“ – Zivilcourage im Münchner Alltag
Beleidigungen, Pöbeleien und Handgreiflichkeiten gehören in Bus, U- oder S-Bahn leider zum Alltag. Kommt dann noch Alkohol ins Spiel, können vermeintlich harmlose Situationen schnell eskalieren. Aber wer ist so mutig, geht dazwischen und hilft? Wir sprachen mit zwei Menschen, die im richtigen Moment Zivilcourage bewiesen und Schlimmeres verhinderten.
Es ist 15 Uhr, als die 17-jährige Virginia Ohlmann sich am 25. Januar 2023 vom Bahnhof Poing aus auf den Weg zu ihrem Bus machen will. Da bemerkt sie ein Handgemenge: Ein Mann Mitte zwanzig prügelt mit der Faust auf einen Altersgenossen ein, der bereits im Gesicht blutet. Rund zwanzig Schaulustige, Kinder und Erwachsene, schauen zu, greifen aber nicht ein. Ohne groß nachzudenken, geht Virginia dazwischen, indem sie den Angreifer anschreit: „Lassen Sie das, sonst ruf ich die Polizei!“ Was sie anschließend auch tut. Sie geht dem Täter hinterher, hält über ihr Handy Kontakt zur Polizei. Der versucht sie abzuwimmeln, doch die Schülerin bleibt dran, bis dieser bei seiner Wohnung ankommt. Als die Beamten dort eintreffen, identifiziert Virginia den jungen Mann, der darauf hin festgenommen wird.
„Ich dachte intuitiv, ich muss jetzt helfen“ – Virginia Ohlmann

An Situationen wie diese denken sicher viele, wenn sie an Zivilcourage denken. Doch Zivilcourage beginnt nicht erst, wenn jemand auf dem Bahnsteig zusammengeschlagen wird, sondern auch schon im Kleinen, „wenn man seine Meinung sagt und sich gegen Ungerechtigkeiten zur Wehr setzt“, sagt Andreas Voelmle. Der Kommunikationsberater engagiert sich seit 2009 ehrenamtlich bei der Dominik-Brunner-Stiftung. Diese will Zivilcourage* und Gewaltprävention fördern. Besonders für Kinder und Jugendliche setzt sie sich ein: mit Projekten, die Mobbing, Gewalt und Aggressionen – zum Beispiel in Schulen – reduzieren sollen.
Der Tod von Dominik Brunner als kollektives Schlüsselerlebnis
München gilt zwar laut der Kriminalstatistik von 2022 als die sicherste Großstadt in Deutschland. Aber auch hier kommt es täglich zu Übergriffen. Alleine im öffentlichen Nahverkehr registrierte die Polizei München 758 Fälle von leichter und 300 von schwerer Körperverletzung. Außerdem 134 Fälle von Bedrohung, 371 Fälle von Gewaltkriminalität und fünf Vergewaltigungen. Wenn es in der Öffentlichkeit zu bedrohlichen Situationen kommt, kann beherztes Eingreifen Schlimmeres verhindern. Zugleich besteht immer die Gefahr, selbst zum Opfer zu werden.
Besonders der tragische Tod vom Münchner Dominik Brunner im September 2009 hat sich im kollektiven Gedächtnis der Stadt verankert. Nachdem er eine Gruppe von Schülerinnen vor pöbelnden Jugendlichen beschützen wollte, wurde er in einer darauf folgenden Attacke mit Faustschlägen und Tritten tödlich verletzt. Kurz danach wurde von Freund*innen und Kolleg*innen die „Dominik-Brunner-Stiftung für Zivilcourage“ gegründet. Der Fall von Brunner war auch für Voelmle ein Schlüsselmoment. Brunner war ein Kunde von ihm. Er fasst den Grundgedanken zusammen: „Wir dachten uns damals: Er hat sein Leben gelassen und es kann nicht sein, dass davon nichts übrig bleibt.“
Heute betreibt die Stiftung verschiedene Projekte. Darunter „Pack ma’s“, ein Schulprojekt, an dem bereits über 5.000 Lehrer*innen teilnahmen. Dabei geht es nicht nur um Zivilcourage, sondern auch um Gewaltprävention – etwa wie man in gefährlichen Situationen deeskalierend wirken kann. In den Trainings werden verschiedene Situationen durchgespielt, wie Voelmle erklärt: „Im Bus tendieren Jugendliche in der Nacht oft dazu, in der letzten Reihe zu sitzen.“ Beim sogenannten „Busfahrerspiel“ nimmt der Trainer dann die Rolle des Provokateurs ein und will den Teilnehmer*innen das Handy wegnehmen. Sie lernen: Aus der letzten Reihe ist es schwer zu entkommen. Sicherer ist es vorne, in der Nähe des Busfahrers.
Was tun im Ernstfall?
Welche allgemeinen Hinweise hat Voelmle als geschulte Person für uns? „Erst einmal sollte man nicht alleine dazwischengehen, sondern immer Mitstreiter suchen. Dazu hilft es, Personen direkt anzusprechen, wie: ,Der Herr mit dem blauen Hemd, könnten Sie mir helfen?‘“, erklärt er. „Dann ist es wichtig, das Opfer anzusprechen und es aus der Situation herauszubringen.“ Den Täter sollte man siezen und mit Respekt behandeln, um möglichst deeskalierend zu wirken. „Manche sagen auch, man sollte den Täter ablenken, um ihn aus dem Tunnel zu holen, in dem er sich gerade befindet.“ Das Wichtigste sei jedoch, die Polizei zu rufen und sich die Person einzuprägen, um später als Zeuge helfen zu können: „Man sollte sich nicht selbst in Gefahr bringen“, so Voelmle. Auch wenn man selbst Opfer eines Angriffs wird, gibt es Rat: So sollte man Angreifer*innen immer siezen – alleine, um den anderen Fahrgästen klarzumachen, dass es sich nicht um einen privaten Streit handelt. Außerdem hilft lautes Schreien, um auf sich und seine Notlage aufmerksam zu machen.
„Es ist wichtig, das Opfer anzusprechen und es aus der Situation herauszubringen.“ – Andreas Voelmle
Aber warum werden außenstehende Menschen manchmal aktiv und manchmal nicht? „Ein wichtiger Aspekt ist der sogenannte ‚Bystander effect‘“, erklärt Voelmle. Demnach sinkt die individuelle Bereitschaft zu helfen, je mehr Leute vor Ort sind. „Weil jeder glaubt, der andere wird schon was machen.“ Laut Voelmle gibt es aber auch positive Entwicklungen. So hat er in den vergangenen Jahren beobachtet, dass sich Menschen in solchen kritischen Situationen häufiger zusammentun: „Wir hatten Fälle, in denen vor Ort eine Art spontane Arbeitsteilung entstand: Einer kümmert sich um das Opfer, der andere holt die Polizei, der dritte verfolgt den oder die Täterin – ohne dass sich die Leute vorher kannten. Das hat es früher nicht gegeben, da hat die Aufklärungsarbeit wirklich gefruchtet.“
„Ich kill dich“ – Schlägerei in der S1
Trotz aller guten Tipps und Ratschläge erfordert die Realität manchmal körperliche Eingriffe, die in keinem Lehrbuch stehen und zu denen auch nicht jeder fähig ist. Das zeigt das Beispiel von Marco Schmidt. Der heute 28-Jährige fuhr im April 2019 abends gegen 22.30 Uhr mit der S-Bahn von seiner Arbeitsstelle in Pasing nach Hause in Richtung Freising. Nach einiger Zeit bemerkt er, dass sich der hintere Teil des Zuges immer mehr leert. Eltern packen ihre Kinder an der Hand und flüchten. „Hinten prügeln sich zwei Leute“, sagt ihm ein Passant. Da geht Marco hin und sieht einen Mann, der bereits nasenblutend am Boden liegt. „Ich bot ihm meine Hilfe an und wollte ihm hochhelfen.“

Foto: Kann sich und andere verteidigen – Marcos Kampfsportkenntnisse geben ihm Selbstbewusstsein in brenzligen Situationen
Darauf wird der andere beleidigend und schlägt weiter auf den am Boden liegenden ein: „Ich kill dich, ich hab ein Messer, ich stech dich ab“. Um sich abzusichern, spricht Marco einige der umstehenden Leute an und fragt, ob sie für ihn als Zeugen aussagen würden. Dann versucht er, ihn mit Worten zu beruhigen. Der wird daraufhin aber noch aggressiver und schreit nun Richtung Marco: „Erst steche ich dich ab und dann deine Familie!“. Als der Täter in seine Hosentasche greift, reagiert Marco blitzschnell. Er geht auf ihn zu und bringt den Mann schnell zu Boden. Als er dort liegt, wirft sich Marco auf ihn und hält ihn im Polizeigriff fest. Anstatt ruhiger zu werden, wird der Schläger aber noch aggressiver. „Er hatte extrem viel Kraft und war wie unter Drogeneinfluss“, erzählt Marco, der schon seit einigen Jahren Kraft- und Kampfsport betreibt. Er versucht, den Mann am Boden zu halten, bis endlich die Polizei eintrifft. „Es waren zehn bis fünfzehn Minuten, aber die haben sich angefühlt wie Stunden“, sagt er rückblickend.
Warum hat Marco sich in so große Gefahr begeben?
„Ich kann bei sowas einfach nicht wegschauen“, sagt er. Er wuchs mit fünf Schwestern auf und hat wohl auch deswegen einen ausgeprägten Beschützerinstinkt entwickelt, wie er sagt. Dazu kommt, dass er in der Vergangenheit oft selbst das Opfer war. In der Schule wurde er gemobbt und musste deshalb sogar wechseln. In der Ausbildung erging es ihm ähnlich, bis Marco beschloss, etwas zu ändern. Er fing mit Krafttraining und japanischem Kampfsport an. Seinem Selbstbewusstsein half das sehr. Für sein beherztes Eingreifen in der S-Bahn wurde er im September 2021 vom Bayerischen Staatsministerium des Innern mit der „Medaille für Verdienste um die Innere Sicherheit“ ausgezeichnet.
Auch Virginia Ohlmann zählte in diesem Jahr zu den Preisträgern. Sie hat sich jetzt mit 18 Jahren bei der Polizei beworben und beginnt dort bald ihre Ausbildung. Ihr Beispiel zeigt, dass bei Auseinandersetzungen nicht immer nur Muskelkraft gefragt ist. Selbstbewusstsein und Gerechtigkeitsempfinden können genauso hilfreich sein.
Portraits: © Ruth Krayer; Beitragsbild: Oliver Cole auf Unsplash
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