Leben

“Ich wünsche mir Professoren oder Physiker” – Migranten in München

Christoph Gurk

Migranten sind in München und Deutschland längst nicht mehr nur ungelernte Fachkräfte. Sie haben Sprachkenntnisse, Know How und Gründergeist – viel zu oft wird dieses Potential jedoch vergessen und behindert. Eine Reportage.

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Bülent Tulay hat die Ärmel hoch gekrempelt, auf seinem Schreibtisch stapeln sich Papiere. Immer wieder checkt er sein iPhone, währenddessen spricht er ins Telefon, wie sonst auch ruhig und leise. Am anderen Ende ist der türkische Generalkonsul, Tulay ist Vorsitzender des Rates der Türken in Bayern. Vor allem aber ist Tulay Multiunternehmer, Türke, Migrant und ein gutes Beispiel für etwas, was in Deutschland oft vergessen wird: Den positiven Einfluss, den Migranten und deren Nachfahren auf die deutsche Wirtschaft haben – wenn man sie nur lässt.

1978 kam der damals 18-jährige aus der Türkei nach Deutschland, nach einem Deutschkurs begann er, in München Jura und Politikwissenschaften zu studieren. Heute hat Tulay eine Werbefirma, einen Buchverlag, mehrere Personalunternehmen und über 900 Angestellte. Eine deutsch-türkische Erfolgsgeschichte, wie es sie viel öfter geben könnte.

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6,7 Millionen Ausländer wohnen in Deutschland, 8 Millionen Deutsche haben einen Migrationshintergrund. Nach Erfolg und Wirtschaftskraft klingen diese Worte nicht, eher nach Arbeitslosigkeit und Problembezirken. An der Spitze der deutschen Wirtschaft stehen scheinbar nur Deutsche, die Immigranten arbeiten am Fließband und arbeiten an der Supermarktkasse. Als Beispiele für gelungene Integration halten immer wieder der Politiker Cem Özdemir oder Komiker wie Kaya Yanar her. Unternehmer und Firmenchefs mit Eltern aus der Türkei, Polen oder Griechenland sind kaum bekannt, dabei sind Lebensläufe wie der von Bülent Tulay keine Seltenheit. 64 000 Unternehmer in Deutschland kommen aus dem Ausland oder leben hier in zweiter Generation. Sie beschäftigen 323 000 Mitarbeiter und machen mehr als 30 Milliarden Umsatz pro Jahr.

Das zeigt: Migranten können weit mehr, als Döner zu verkaufen und bei der Straßenreinigung zu arbeiten, sie haben Kulturkompetenz und Sprachkenntnisse, die sich viele Deutsche mühsam aneignen müssen. Diese Potentiale gehen in Deutschland oft verloren, Talente werden nicht erkannt oder nicht gefördert. Für Tulay sind auch fehlende Bildungschancen ein Grund dafür. „Das deutsche Schulsystem ist für Migranten sehr schwierig.“ Er selbst besuchte in der Türkei das Gymnasium und kam erst danach nach Deutschland. In Deutschland schaffen es dagegen nur halb so viele Migranten auf das Gymnasium wie Kinder aus Deutschen Familien. In den Unis haben dann nur noch 8 Prozent der Studenten einen Migrationshintergrund. Der Rest geht verloren, irgendwo im Räderwerk des deutschen Schulsystems.

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Doch damit nicht genug: Akademiker mit Migrationshintergund werden nach dem Studium dreimal so oft erwerbslos, wie Deutsche mit der gleichen Qualifizierung. Das fand das Futureorg Institut, ein Zusammenschluss von Deutschen und Türkischen Wissenschaftlern und Organisationen, heraus. Während des Studiums müssen die meisten Migrantenkinder arbeiten. Das verlängert ihre Studienzeit und mindert die Jobchancen, denn zwölf Semester machen sich im Lebenslauf schlechter als Rekordstudienzeiten dank elterlicher Finanzspritzen. Nach dem Studium fehlen ihnen die Netzwerke, die Onkel und Golffreunde der Eltern, die den Einstieg in den Job leichter machen können.

Die Folge ist, dass gut ausgebildete junge Menschen Deutschland verlassen. „Bei der deutsch-türkischen Elite gibt es einen Rückwanderungstrend. Sie wollen zurück dahin, wo sie nicht hergekommen sind“, sagt Tulay. „Ich kann das sehr gut verstehen.“ Laut einer Studie des Futureorg Instituts wollten von knapp 250 Studenten mit türkischen Wurzeln 38 Prozent in die Türkei aus- oder rückwandern. Die Hauptgründe: fehlendes Heimatgefühl und schlechte Berufsaussichten. Deutschland gehen so nicht nur hochqualifizierte Akademiker verloren. „Die Vorbilder der meisten Migrantenkinder kommen aus der Händlerschicht“, sagt Tulay. „Ich wünsche mir aber Professoren oder Physiker.“ Genau die verlassen aber nach ihrem Studium die Bundesrepublik, weil sie hier keine Chancen für sich sehen.

Fatal ist auch, dass viele hochbegabte Ausländer gar nicht mehr in Betracht ziehen, nach Deutschland zu kommen. Schulabschlüsse oder Universitätsdiplome werden zu oft nicht anerkannt, Ingenieure müssen auf dem Bau schuften, Ärztinnen als Krankenpflegerinnen oder Zimmermädchen. Derweil verliert Deutschland auch immer mehr Deutsche Akademiker. Seit 2003 haben 180 000 Menschen das Land verlassen, viele von ihnen gut ausgebildet an deutschen Universitäten. Allein 2008 verlor die Bundesrepublik mehr als 3000 Ärzte. Gerade deshalb wäre es umso wichtiger, dass qualifizierte Zuwanderer nach Deutschland kommen – doch die gehen lieber in andere Industriestaaten, wo sie herzlicher empfangen werden.

„Hier werden Akademiker in einen Topf mit Gastarbeitern geschmissen“, sagt Tulay.  „Deutschland ist weder vorbereitet noch kann es umgehen mit der türkischen Elite.“ Dann macht Tulay eine lange Pause. „Ich würde im Moment keinem 18-jährigen Abiturienten raten, nach Deutschland zu kommen.“ Wenn junge, gut ausgebildete Menschen Deutschland meiden, dann ist das kein gutes Zeichen. Die Deutsche Wirtschaft braucht sie dringend, um international wettbewerbsfähig zu bleiben. Im Gang vor seinem Büro hat Tulay ein Ölgemälde in goldenem Bilderrahmen hängen. Es zeigt einen Schiffbruch, graue Wolken verdunkeln die Sonne. Auf dem Wrack steht ein Mann und winkt um Hilfe. Ob sie kommt, ist ungewiss.

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