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München als First Mover: Die Landeshauptstadt aus der Perspektive Mensch

Anna Glotzbach

Weltweit stehen Städte vor großen Herausforderungen: Klimawandel, soziale und politische Polarisierung, verringernde Flächenressourcen sowie gleichzeitig steigende Einwohnerzahlen und Lebenshaltungskosten. Um diese Herausforderungen zu adressieren spielen Freiräume eine entscheidende Rolle. Auch bei uns in München. Doch von wem und wie werden Münchner Freiräume genutzt? Wo liegen Lieblingsorte, was sind die Bedürfnisse der Münchner*innen?

In ihrem Stadtentwicklungsplan “STEP 2040 München” schreibt die Landeshauptstadt Freiräumen und öffentlichem Raum höchste Priorität zu – damit wird die nachhaltige Freiraumentwicklung in der Stadtplanung immer wichtiger. 2019 bis 2022 wurde durch die Zusammenarbeit mehrerer Büros ein fachspezifisches Gutachten erstellt: die Studie “Mensch im Mittelpunkt: Nutzungsmuster öffentlich zugänglicher Freiräume im Zuge des soziodemografischen Wandels in München”. Das dänische Architektur- und Stadtplanungsbüro Gehl war für die Auswertung der Daten und die Ableitung von Handlungsempfehlungen verantwortlich. Mit ihrem Ansatz der “People-First-Perspective” wurde der Mensch als Ausgangspunkt gewählt und damit nicht nur ein Portrait von München, sondern auch entsprechende Nutzerprofile erstellt, die die Bedürfnisse, Aktivitäten, Prioritäten und Konflikte der Nutzer*innen aufzeigen. Wir haben Rasmus Duong-Grunnet, Direktor, und Leon Legeland, Projektmanager, von Gehl zu ihren persönlichen Highlights, Must-Knows und Learnings befragt…  

Beim Münchner Portrait sind mir Aussagen wie “Menschen mit viel Freizeit nutzen Freiräume etwas häufiger”, “Nachts fühlen sich Frauen deutlich unsicherer als Männer” oder “die Nutzungsdichte innerhalb der Freiräume wird mit zunehmender Einwohnerdichte und begrenzter Flächenkapazität weiter steigen” aufgefallen – allesamt erstmal einleuchtend und wenig überraschend. Welche Erkenntnisse der Studie waren für euch neu?

LEON
Die Nachbarschaft ist wichtiger als gedacht. Es gibt zwar stadtweite Hotspots, wie den  Englischen Garten, wo alle hinfahren, aber Münchner*innen bleiben sehr stark in ihrem eigenen Viertel. Damit sind kleinere Parks und Plätze in unmittelbarer Umgebung von größerer Bedeutung als zunächst von der Stadtverwaltung angenommen.

RASMUS
Auch wenn viele Münchner*innen die Hotspots, wie den Marienplatz, entlang der Isar oder die Altstadt, als ihre Lieblingsorte benennen, verbringen sie ihre Freizeit überwiegend woanders, in ihrer eigenen Nachbarschaft. Das ist keine riesige Überraschung, aber ein sehr interessanter Einblick und eine wichtige Bestätigung für künftige Stadtentwicklungskonzepte.

Quelle: Studie “Mensch im Mittelpunkt” (2022)

LEON
Überraschend war auch, dass es keine Korrelation zwischen Wohnungs- und Haushaltsgröße und der Häufigkeit der Nutzung von Freiräumen gibt. Tatsächlich nutzen Menschen, die einen Balkon oder eine Terrasse haben, Freiräume sogar häufiger als Menschen, die in einer eher kleinen Wohnung mit mehreren Menschen zusammen leben. Oder die Tatsache, dass Menschen, die in höheren Stockwerken wohnen, Freiräume seltener nutzen als Menschen, die in unteren Stockwerken wohnen.

Was sind eure Top 3 Learnings aus der Studie, die Stadtmacher*innen unbedingt wissen und in künftigen Münchner Stadtentwicklungskonzepten mitdenken sollten?

RASMUS
Dichtestress und Dichtefreude. Nicht nur München, sondern Städte weltweit werden immer dichter und dichter besiedelt. Man geht davon aus, dass das eine Herausforderung darstellt, eine Problematik, die gelöst werden muss und mit Konflikten einhergeht. Doch durch unsere Analyse haben wir herausgefunden, dass viele Münchner*innen es als sehr positiv bewerten und sich darüber freuen, dass viel los ist in der Stadt. Daher haben wir das Phänomen des positiven Dichteempfindens in Dichtefreude umbenannt. Eine zentrale Frage für zukünftige Debatten dürfte lauten: Wann genau hat man Dichtefreude und wann schlägt es in Dichtestress um? Das ist wichtig zu verstehen, und hängt natürlich auch davon ab, wer du bist, wo du wohnst, unter welchen Bedingungen und mit wem du dich triffst. Die gleiche Situation, der gleiche Ort, der gleiche Tag – das wird sehr subjektiv empfunden. Und in einer Großstadt wie München leben erstmal viele verschiedene Menschen. Wir alle erleben die Stadt unterschiedlich, sehen unterschiedliche Qualitäten, haben unterschiedliche Bedürfnisse und unterschiedliche Verhaltensmuster. Die verschiedenen Nutzungsmuster haben wir durch Nutzerprofile in der Studie dargestellt. Wichtig ist nicht nur, dass wir respektvoll miteinander umgehen, sondern auch, dass in der Stadtplanung die unterschiedlichen Perspektiven und Quellen für Dichtefreude mitgedacht und berücksichtigt werden.

Quelle: Studie “Mensch im Mittelpunkt” (2022)

LEON
Urbane Räume. Die beliebtesten Orte sind immer noch die großen Parks mit Zugang zu Wasser und unversiegelte, grüne Räume, doch die Bedeutung von urbanen Nischen nimmt zu. Da sehe ich auch Potential, um weitere Qualitäten zu schaffen. Der Platz für die großen Parks mit Wasser ist in der Stadt München eigentlich nicht mehr gegeben. Die Raumpotentiale liegen in der Umverteilung von Straßenraum, auf Dächern, der Umgestaltung von Parkplatzflächen und der Entsiegelung von Flächen.

Wo seht ihr in München Potenzial, um Projekte umzusetzen, die die Stadt in großen Teilen verändern können und damit signifikanten Einfluss auf das Alltagsleben von Münchner*innen haben? Wären das dann die kleinen Nebenstraßen und Parks, worauf ihr euch erstmal fokussieren würdet oder was anderes?

LEON
Ja, zum einen das, zum anderen denke ich dabei auch an sogenannte Leuchtturmprojekte, wie zum Beispiel eine autoarme Altstadt oder die Umgestaltung des Altstadtrings. Weg von der sechsspurigen Straße, die wie eine Barriere zwischen Innenstadt und den umliegenden Bezirken verläuft, hin zu einem begrünten Boulevard, der zum Flanieren und Verweilen einlädt. Selbstverständlich muss die Altstadt weiterhin erreichbar bleiben für Menschen, die auf das Auto angewiesen sind. Also bspw. für den Lieferverkehr, Menschen mit Behinderung, Handwerker*innen und Anwohner*innen.

RASMUS
Wenn wir uns die Daten der Studie anschauen, fällt auf, dass die Lieblingsorte der Münchner*innen sehr eng mit Kulturangeboten zusammenhängen. Und natürlich sind das auch die Hotspots der Stadt, das soll auch so bleiben. Wenn man nun aber auch weiß, dass Münchner*innen ihre Zeit vor allem im eigenen Viertel verbringen, könnte man auch mit einem community-based, alltagstauglichen Kulturangebot arbeiten. Was brauche ich eigentlich um die Ecke, da wo ich lebe, wo ich arbeite, wo meine Kinder zur Schule oder in den Kindergarten gehen, wo ich manchmal joggen gehe? Es muss nicht gleich ein großes, weltweit bekanntes Museum gebaut werden, aber eine Art Verlagerung der Hierarchie zwischen dem, was die Altstadt liefert, und dem, was ich in meiner unmittelbaren Umgebung an Kulturangeboten finde, sollte umgesetzt werden.

Quelle: Studie “Mensch im Mittelpunkt” (2022)

Wo seht ihr Hindernisse bzgl. der Umsetzung von den Handlungsempfehlungen?

LEON
Das ist eine schwierige Frage. Allgemeine Herausforderungen bei der Stadtplanung sind die Finanzierung von Projekten, fehlendes Personal, komplizierte Bürokratie- und Verwaltungsprozesse oder dass Projekte politisch sehr aufgeladen sein können. Aber die Stadt München ist schon gut dabei, die sind fit und haben echt gute Leute.

RASMUS
Das größte Hindernis – und das betrifft nicht nur die Stadt München – ist, dass man nicht unbedingt von Anfang an die perfekte und beste Lösung kennt oder parat hat. Stadtentwicklung ist ein never-ending-process, und man muss immer wieder Sachen ausprobieren, um im echten Leben beobachten und studieren zu können, inwiefern die Umsetzung dazu beigetragen hat, das gewünschte Ergebnis zu erhalten. Messen, Testen, Verfeinern – die Initiierung von Handlungsentwicklungen klappt nur, wenn man so arbeiten will, und auch kann. Darin sehe ich ein Hindernis, aber auch die Möglichkeit Stadt neu zu denken und umzugestalten.

LEON
Manchmal ist es gesünder, einen gewissen Pragmatismus an den Tag zu legen, um voranzukommen. Es ist nicht schlimm, nicht von Anfang an die perfekte Lösung, die es allen recht macht, zu haben. Es gehört Mut und Kreativität dazu, diese Gemengelage, die eine Stadt hat, dann auch anzugehen.

Es waren zwei andere Architekturbüros mit der Erhebung und Durchführung der unterschiedlichen Methoden beauftragt, Gehl hat die Daten anschließend ausgewertet und Handlungsempfehlungen abgeleitet. Wie zufrieden wart ihr mit dem Material zum Auswerten?

RASMUS
Die Stadt München ist aus unserer Sicht ein sehr ambitionierter First Mover. Eine so große, stadtweite Nutzerstudie gibt es tatsächlich nicht so oft, wenn überhaupt. Unsere Aufgabe bestand also nicht nur darin, die Daten auszuwerten und Handlungsempfehlungen abzuleiten, sondern auch einen neuen Ansatz zu entwickeln, wie man mit diesem Thema arbeitet. Und natürlich gab es – wie in jedem anderen Projekt auch – eine Reihe von Sachen, die man hätte anders machen können. Wir haben den gesamten Prozess evaluiert und unter anderem auch Vorschläge gemacht, wie die gleiche Studie für die Stadt München in fünf oder zehn Jahren durchzuführen wäre. Da gibt es ein paar Hinweise und Ideen. Doch eine Stadt fängt nicht an sich zu entwickeln, nur weil es eine Studie gibt. Für die Zukunft hat man dank des umfangreichen Münchner Portraits und der Nutzerprofile einen guten Einblick in und holistischen Überblick über die Nutzungsmuster von Freiräumen der Münchner*innen. Damit muss aber auch weitergearbeitet werden. Das ist für uns ein wichtiger Punkt. Es wäre ein super Ergebnis, wenn unser Ansatz, die Erkenntnisse und Handlungsempfehlungen aus der Studie in verschiedenen Projekten, Situationen und konkreten Taten umgesetzt werden würden – oder sich andere Städte davon inspirieren lassen würden.

LEON
Diese Studie ist wirklich ein Alleinstellungsmerkmal von München. Man hat sich sehr viel Zeit und Mühe investiert verschiedenste Stadtakteur*innen einzubinden: durch Befragungen, Interviews, Beobachtungen, Fokusgruppen und Spaziergänge. Nur wenn man es das erste Mal macht und noch keine Erfahrung hat, wie man es besser machen kann, ist es nur natürlich, dass manche Sachen nicht super gut laufen. Es wurden Daten gesammelt, die wir jetzt nicht unbedingt gebraucht haben, andere Methoden wiederum haben wirklich gute Ergebnisse gebracht. Die Erstellung einer solchen Studie ist ein kontinuierlicher Lernprozess.

Quelle: Studie “Mensch im Mittelpunkt” (2022)

Wie wurden Meinungen und Perspektiven von unterrepräsentierten / schwer zugänglichen Gruppen mit einbezogen?

LEON
Die Perspektive von obdachlosen Menschen wurde über Spaziergänge und separate Fokusgruppen eingefangen. Obdachlose Menschen selbst wurden nicht direkt befragt, die Fokusgruppen bestanden aus Akteur*innen, die mit Obdachlosen zusammenarbeiten, beispielsweise in Obdachlosenzentren oder der Obdachlosenzeitung. Es gab also Stellvertreter*innen, die für sie gesprochen haben. Auch mit Vertreter*innen der LGTBIQ* Community gab es einen thematischen Spaziergang und eine Fokusgruppe. Die Perspektive von Kindern, also Menschen unter 14 Jahren, wurde ebenfalls nur indirekt über die Antworten ihrer Eltern und bei Beobachtungen eingefangen. Eine unserer Empfehlungen war es auch, dass es nochmal eine Sonderstudie zu Nutzungsmustern von Kindern, wie sie die Stadt, ihr Viertel und öffentliche Räume nutzen, geben sollte. Zum Thema Obdachlosigkeit wird bereits eine Fachstudie durchgeführt.

RASMUS
Wir haben in Kopenhagen einige Partnerprojekte laufen, die sich speziell mit der Herausforderung auseinandersetzen, wie unterrepräsentierte Gruppen besser einbezogen werden können. Bei dieser Studie war jedoch das Ziel, die Nutzungsmuster der gesamten Stadt zu analysieren und abzubilden. Dazu passend wurde ein Methoden-Mix entworfen. Wir haben es auch als unsere Aufgabe gesehen, zu verstehen, worin die Grenzen der Studie bestehen. Deswegen haben wir auch ein ganzes Kapitel über unterrepräsentierte Nutzungsgruppen geschrieben und Empfehlungen für integrierte Ansätze oder Studien gegeben. Die Studie “Mensch im Mittelpunkt” ist eine sehr wertvolle Analyse, die als Ausgangspunkt für weitere Projektumsetzungen und Evaluationen dienen kann. Man kann nun gezielt in bestimmte Nutzergruppen reingehen und einen neuen, an die Interessengruppe angepassten Methoden-Mix durchführen, um die Nutzungsmuster noch besser zu verstehen. Wichtig war uns vor allem, die People-First-Perspektive durchzusetzen, welche nicht nur als Analysemethode fungiert, sondern auch als Ansatz für alle weiteren Projekte und Studien dienen kann.

Die komplette Studie “Mensch im Mittelpunkt” zum Nachlesen findet ihr hier. Diesen Donnerstag, 02. März 2023, wird es zudem von 18 – 20 Uhr eine öffentliche Veranstaltung in der Rathausgalerie zum Thema “Wie und von wem werden Münchens öffentliche Parks, Plätze, Straßen und Erholungslandschaften jetzt und in Zukunft genutzt?” geben. Mit dabei unter anderem Rasmus Duong-Grunnet. Wer sich also ein eigenes Bild von der Thematik machen oder Rasmus noch ein wenig weiter mit Fragen löchern möchte… Feel free to join.

2 Comments
  • Karmann
    Posted at 20:35h, 07 März

    ich bin sehr an dieser Studie interessiert. Leider ist mein Deutsch nicht so gut. Gibt es eine englische Übersetzung der Studie?
    Viele Danke!

    Julie aus Canada.

  • Lara M
    Posted at 07:08h, 25 April

    I would also be interested in the English version.

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