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“Neue Zeit” – Lesung im Jüdischen Museum

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Am Dienstag liest Peter Hamm im Jüdischen Museum aus Hermann Lenz’ wiederaufgelegten Roman “Neue Zeit”. Das Werk erzählt eine Liebesgeschichte im München der Nazizeit. Eine Rezension.

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Hermann Lenz: Neue Zeit. Roman. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2009, geb., 391 S., 18,80 Euro.

Will man die erste Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts mithilfe der Literatur besser verstehen, können zwei Autorennamen in einem Atemzug genannt werden: Walter Kempowski und Hermann Lenz. Wo der 1926 geborene Kempowski für sein gigantisches Echolot-Projekt collagierend und montierend auf Quellenmaterial von Zeitzeugen des Zweiten Weltkriegs zurückgriff, die Subjektivität des Autors im Schreiben auf das Mindestmaß des Ordnens reduziert ist, vertritt der 1913 geborene Lenz in seinem aus neun Romanen bestehenden Zyklus „Vergangene Gegenwart“ die Position eines radikalen Subjektivismus, wie man sie in solch extremer Form gegenwärtig nur bei Peter Kurzeck, dem Chronisten der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, findet. Kempowskis und Lenz’ Bücher sind zwei Seiten einer Medaille, deren literarischer und historischer Stellenwert nicht hoch genug einzuschätzen ist. „Neue Zeit“, der dritte Teil von „Vergangene Gegenwart“ und 1975 zum ersten Mal erschienen, ist nun bei Suhrkamp neu aufgelegt worden.

Der Roman erzählt die Geschichte des württembergischen Kunstgeschichtsstudenten Eugen Rapp, der 1937 von Heidelberg nach München an die Universität wechselt und sich dort in die Kommilitonin Hanni Treutlein, eine Halbjüdin, verliebt. Was von außen betrachtet zum Problem werden könnte, freut ihn, da er ihr gegenüber seinen Ekel vor dem nationalsozialistischen Regime nicht verstecken muss: „Jedenfalls weißt Du jetzt, daß du offen mit ihr reden kannst…“ In München beginnt der Student mit seiner schriftstellerischen Tätigkeit; Tagträumer und romantischer Eigenbrödler, der er ist, fühlt er sich von Hanni und dem stillen Leben der Familie Treutlein angezogen, er schreibt an der ersten Erzählung, die veröffentlicht werden wird, imaginiert sich ins Wien Hofmannsthals, verehrt die Dichter Eduard Mörike und Adalbert Stifter, zentrale Vorbilder für Hermann Lenz’ Schreiben.

Rapp, der so wenig in die neue Zeit passen will, muss in ihr leben, voller Ablehnung und zugleich unfähig, sich aufzulehnen. Er wird zum Beobachter der Zeitläufte, wird an die Front geholt, wird seine passiv-reflektierende Beobachterrolle stets verteidigen. Und erinnert – in dieser frappierenden Mischung aus Naivität und Hellsicht – bisweilen an eine der Figuren aus der frühsten Zeit der neuhochdeutschen Literatur, an Grimmelshausens Simplicius Simplicissimus, dessen Hineingeworfensein in den Dreißigjährigen Krieg, das erzählende Ich zur Aktivität zwingt, wo es kontemplativ bleiben möchte, und dessen Betrachtungen ebenfalls ein Fanal gegen den Krieg darstellen.

Rückzug aufs Eigene bleibt dem träumenden Seher Rapp als einzig möglicher Ausweg: „Krieg war eine trübe Sache, und zu Hause war es auch oft trüb und schweißig; zwischendurch auch blutig, manchmal; weshalb alles Trübe durchscheinend zu machen oder zu durchleuchten; doch um ihn zu durchleuchten, dafür erwies sich dieser Krieg als zu kompakt. Vielleicht gelingt’s dir trotzdem. Alles sehen, alles hören, alles spüren, alles riechen, was sich dir hier zeigt. Laß es in dich eindringen, nimm daran teil, dann wird es dir klar. Du bist jetzt hier hineingestellt; ausweichen kannst du nicht mehr. Freilich, mehr, als daß du es erträgst, bleibt dir nicht mehr übrig“, liest man in „Neue Zeit“. Es ist eben jene, mit allen Sinnenwahr- und aufnehmende Haltung, aus deren Niederschrift eine der vielleicht eindringlichsten Beschreibungen der Geschehnisse in Deutschland und an der russischen Front zwischen 1937 und 1945 hervorgegangen ist. Die Sinnlichkeit dieser erinnerten Wahrnehmung führt aufs Anschaulichste zu den Beschreibungen dessen, was der Schreiber in sich aufgenommen hat: „Sickernder Schnee, stäubender Schnee, und Schnee, der ruhte, glänzte, glitzerte, die Schatten japanblau“, ist nur ein Beispiel für die Schönheit dieser Sprache, die mit derselben Gleichmut den Zauber der „alten Zeit“ und das Grauen und die Willkür der nationalsozialistischen Politik und Schreckensherrschaft der „Neuen Zeit“ in Worte fasst, die niemals verklären, was nicht verklärbar ist.

Es nimmt nicht Wunder, dass Paul Celan, der 1960 in seiner Büchnerpreis-Rede die Aufforderung aussprach „Geh mit der Kunst in deine allereigenste Enge. Und setze dich frei!“, mit Hermann Lenz’ poetologischem Ansatz übereinstimmte und, obwohl voller Misstrauen gegen alle, die als Soldaten auf deutscher Seite im Zweiten Weltkrieg dabei gewesen waren, mit dem Ehepaar Lenz über Jahre eine enge Freundschaft pflegte. Peter Handke war es dann, der Anfang der Siebzigerjahre die Werke von Hermann Lenz zur Lektüre empfahl und dadurch Lenz’ bis dato wenig beachteten Büchern die Aufmerksamkeit einer größeren Leserschaft einbrachte. Eine Empfehlung, die man hier aufs Neue nachdrücklich wiederholen darf.

Peter Hamm liest am 10. November ab 19 Uhr im Jüdischen Museum (St.-Jakobs-Platz 16) aus Hermann Lenz’ Roman “Neue Zeit”. Die Karten kosten sechs Euro (ermäßigt drei).

(Diese Rezension von Beate Tröger erschien in der Novemberausgabe des Münchner Literaturmagazins KLAPPENTEXT. Ein KLAPPENTEXT-Abonnement ist kostenlos.)

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