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Noch mal The Notwist

Thierry Backes
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Niemand würde zwei Konzertkritiken über den gleichen Gig bringen. Wir schon! Nach den Konzerten von Samstag und Sonntag sind wir noch immer ein bisschen gefangen im Klangwald:

Es ist natürlich auch ein Schuss Lokalpatriotismus dabei, wenn eine bayerische Redaktion eine bayerische Platte zum “Album der Nullerjahre” kürt. Zumal, wenn es eine lange Freundschaft gibt zwischen der Band The Notwist und den Kollegen des BR-Jugend- und Szenemagazins “Zündfunk”.

Schon 1989 hatten die Jungs, damals noch eher dem Punk-Rock zugeneigt, einen Zündfunk-Kassettenwettbewerb gewonnen. 2002 dann veröffentlichten sie “Neon Golden”, die Platte des Jahrzehnts, und das ist eine gute Wahl, ist sie doch schlicht und einfach ein Meisterwerk.

Es war ein ganz frischer Sound, den die Gebrüder Michael und Markus Acher aus dem oberbayerischen Weilheim damals in die Welt schickten, ein unvorstellbar harmonischer Mix aus analog und digital, aus Markus’ dünnem, melancholischem Gesang, Gitarre, Bass, Schlagzeug – und den mal sphärischen, mal vor sich hin blubbernden Klängen aus Martin Gretschmans Synthies. The Notwist haben Elemente aus Jazz, Pop und Elektro geschickt zusammengeführt und einfach übereinandergelegt. Sie haben die Schublade “Indietronic” geschaffen und Weilheim für kurze Zeit zum Nabel der Musikwelt gemacht.

Und mit “Neon Golden” eines der Alben produziert, die man Jahre später ein zweites Mal kauft, weil die CD den Kampf gegen die Kratzspuren irgendwann verliert. Nun also hat der Zündfunk “Neon Golden” zur Platte des Jahrzehnts erkoren und The Notwist für zwei restlos ausverkaufte Konzerte ins Studio 1 des BR-Funkhauses einbestellt – in die Halle also, in der sonst das BR-Symphonieorchester aufnimmt. Es ist, wieder einmal, eine diese großen Nächte geworden. Nicht wegen der Musik an sich, die Songs können die Fans hier eh alle mitsingen, und zwar auch die neuen vom Album “The Devil, You + Me”, Songs wie “Gloomy Planets” oder “Where in This World”.

The Notwist besitzen vielmehr die seltene Gabe, ihre Stücke eins zu eins wiederzugeben, ohne dass sie so klingen wie auf der gepressten Scheibe – weil Gretschman, dieser Technik-Freak, wieder irgendeinen weiteren Effekt oder eine weitere Spur reinfrickelt. Mal modeln die Weilheimer aber auch ein Lied wie “Neon Golden” so um, dass es erst zu einer hypnotischen Housenummer wird, dann zu einem Rockstück mutiert, um nahtlos in das eigentlich schnellere “Pilot” überzugehen – während Markus Acher so ganz nebenbei seine eigene Stimme von der Vinyl-Platte in das alles mischt.

The Notwist sind gerade live unglaublich vielfältig, dabei doch so homogen, dass nicht mal das härtere, intensive “Puzzle” sonderlich auffällt. Markus Acher krümmt sich auf der Bühne, wenn er seine Gitarre bis zum Äußersten fordert. Ansonsten trinkt er Tee. Acher hat sich erkältet, doch das wäre niemanden in diesem musikalischen Rausch aufgefallen. Vielleicht ist das ja das Geheimnis von der “Neon Golden”.

The Notwist schaffen einen Klangwald, aus dem man nicht mehr herausfinden will. Vielleicht hatten das die Zündfunkler Anfang 2002 schon erkannt. Als das Album erschien, luden sie die Weilheimer ins Münchner Pathos-Transport-Theater ein. Nicht zu irgendeinem Konzert, sondern zu einem Konzert, das dem Wesen von “Neon Golden” entspricht. Auf der Bühne standen damals nur die Gebrüder Acher, Gretschman bastelte im Keller an den elektronischen Elementen. Seine Sounds, und nur die, liefen über den Äther von Bayern 2. Die Zuschauer im Theater hielten die Radiogeräte hoch, die Achers zupften dazu Gitarre und Bass.

Diesmal steht Gretschman mit auf der Bühne, ohne Schnickschnack kommt er aber nicht aus. Er steuert Effekte über zwei “Wiimotes”, die Fernbedienungen einer Spielkonsole von Nintendo. Doch auch das fällt hier niemandem so recht auf, sind sie doch alle gefangen im Klangwald von The Notwist.

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