Stadt, tagebook des Münchner Forums

Vom Leuchtturm zum Schlusslicht? – 40 Jahre Fußgängerzone

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Ein Jubiläum ist Anlass zur Rückschau und zugleich Aufforderung zum Blick nach vorne. Die Einführung der Münchner Fußgängerzone wurde für die Innenstadt zu einer Zeitenwende, machte sie national wie international zum Leuchtturm.

Dies hatte vielfältige Ursachen:
• Den Kontrast zur vorher vom Verkehr total überlasteten Haupteinkaufsmeile, die übrigens von den Apologeten klassischer Fußgängerzonen auf Grund ihrer Breite als ungeeignet bezeichnet wurde (auch beim Tal meinen heute manche, man könne den Fußgängern nicht auf der ganzen Breite Vorrang einräumen, etwa mit einem verkehrsberuhigten Bereich).
• Das gelungene Gestaltungskonzept des späteren Münchner Architektur-Professors Bernhard Winkler, mit dem dieser statt einer nach dem Muster suburbaner „Malls“ möblierten Einkaufsstraße eine wohnliche „gute Stube“ schuf, in der man das historische Erbe wieder erleben und seine Gäste gerne willkommen heißen konnte.
• Ein Wandel von der funktionalistischen Mentalität des Versorgungseinkaufs der Wiederaufbaujahre zur „Wohlfühlgesellschaft“, die auch im Motto einer „heiteren Sommerolympiade“ zum Ausdruck kam.
• Ein wachsender Shoppingtourismus insbesondere in die Metropolen, der inzwischen dazu führt, dass samstags fast die Hälfte der Innenstadtbesucher von außerhalb des eigentlichen Marktgebietes Münchens kommt
• Massive Investitionen in die Erreichbarkeit der Innenstadt mit öffentlichen Verkehrsmitteln, aber auch mit dem Auto.
• Eine allgemeine Planungseuphorie mit der Bereitschaft von Politikern, Zukunftsentscheidungen zu treffen und umzusetzen.

Dieser Mut der Stadträte führte z.B. 1972 in Nürnberg zur Verabschiedung eines Stufenplanes zur flächenhaften Verkehrsberuhigung der Innenstadt. In den folgenden Jahrzehnten wurde schrittweise ein Netz von etwa zehn Kilometern Fußgängerstraßen und hervorragend gestalteten öffentlichen Räumen verwirklicht, wobei entgegen den Alarmrufen des Handels auch die Autoerreichbarkeit besser wurde. In Regensburg wurde der Autoverkehr ebenfalls schrittweise aus dem historischen Kern verbannt. Dieser ist nun als faszinierendes Ensemble erlebbar, wobei die Vielfalt von 600 meist kleinen Läden zum Erlebnis eines pulsierenden und keineswegs musealen Welterbes beiträgt. Wer begreifen will, welche Aufgaben Münchens Stadtväter unerledigt vor sich herschieben, sollte einmal durch diese beiden Innenstädte bummeln!

Nun möchte ich nicht unfair sein. Auch in München hat die Aufwertung öffentlicher Räume Fortschritte gemacht, zunächst mit der Einbeziehung von Theatiner- und Residenzstraße, dann mit der Anbindung des Viktualienmarktes und verschiedenen kleineren Maßnahmen. Voraussetzung war oft, dass es keine Geschäftsleute als Blockierer gab. Dies erleichterte z.B. die Umgestaltung des St.-Jakobs- Platzes zwischen Stadtmuseum und neuem jüdischen Gemeindezentrum als Highlight.
Dagegen wartet man in einer der wichtigsten Einkaufsachsen der Innenstadt, der Sendlinger Straße, trotz drei- bis viertausend Passanten je Stunde, die sich auf zu engen Gehwegen drängen, nach über zwanzig Jahren Diskussion immer noch auf eine angemessene Gestaltung. Bis heute meinen einige Vertreter der vermeintlichen Interessen des Handels, dessen Schicksal hänge von Parkmöglichkeiten am Straßenrand ab. Dies wurde erneut deutlich, als anlässlich des Prestigeprojektes „Hofstatt“ der davor liegende, 130 m kurze Abschnitt der Sendlinger Straße vom Autoverkehr befreit werden sollte. Am 3.4.2009 argumentierte die FDP im Stadtrat, „ein Wegfall der Parkplätze muss vermieden werden“; der Landesverband des Bayerischen Einzelhandels sowie die IHK befürchteten bei einer Fußgängerzone auf der ganzen Länge der Sendlinger Straße „Wettbewerbsnachteile durch den Wegfall von Stellplätzen und damit weniger Kundenbesuche“. Im Unterschied zu 40 Jahren zuvor muss deshalb die Einbeziehung in den Fußgängerbereich für den Hauptteil der Sendlinger Straße weiter ein Tabu bleiben.

Eine von BMW unterstützte Untersuchung der Sendlinger Straße durch die Universität Bayreuth hatte dagegen bereits 1993 ergeben, dass nur jeder zehnte Besucher mit dem Auto kam und darunter nur jeder Fünfte bevorzugt am Straßenrand parkte (bezogen auf alle Besucher also jeder Fünfzigste!). Bei einer Befragung der Autofahrer gaben nur 22 % Einkaufen als Hauptzweck ihrer Fahrt an. Jeder zweite Einkäufer war schon damals für einen Fußgängerbereich und jeder fünfte für einen verkehrsberuhigten Bereich; nur 12 % sahen keinen Handlungsbedarf. Selbst von den Einzelhändlern der Sendlinger Straße waren 41 % für einen Fußgängerbereich und 11 % für einen verkehrsberuhigten Bereich und sahen nur 24 % keinen Änderungsbedarf (ohne k.M.). Zumindest samstags den Autoverkehr ausschließen wollten damals zwei Drittel der Besucher und 59 % der Einzelhändler (die Untersuchungsergebnisse wurden 1995 veröffentlicht).

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Im Hinblick auf die Chancen und Risiken für das Hackenviertel durch die auf dem Gelände der abgesiedelten Süddeutschen Zeitung entstehende „Hofstatt“ sowie die 2005 gegründete Initiative einiger dortiger Geschäftsleute, ihr Viertel unter dem Motto „Wo München noch münchnerisch ist“ bekannter zu machen, untersuchte ich 2006 mit Unterstützung durch den Bezirksausschuss Altstadt-Lehel den Handel und die Besucher des Hackenviertels (die Ergebnisse wurden 2007 veröffentlicht). Innerhalb des Viertels (d.h. ohne die Sendlinger Straße) waren 89 % der Betriebe selbständig oder Filiale eines regionalen Unternehmens und fast die Hälfte schon über zehn Jahre, darunter ein Viertel sogar mindestens 30 Jahre ansässig. Drei Viertel (76 %) achteten bei der Gestaltung ihrer Läden auf ein besonderes Ambiente, ebenfalls drei Viertel der Läden (76 %) verkauften Waren mit besonderem Beratungsbedarf. Von den 121 Läden lagen 46 % in historischen Gebäuden; deren Angebot war zu 70 % lebensstilorientiert, bei überwiegend gehobenem bis exklusivem Preisniveau.

Die Befragung der Besucher offenbarte einige Probleme. Nur 16 % wohnten außerhalb von München und seinem S-Bahn-Bereich – im Haupteinkaufsbereich waren dies dagegen bereits 1997 doppelt so viele. Shoppingtouristen verirren sich also kaum dorthin, „wo München noch münchnerisch ist“ (ganz im Gegensatz zu Regensburg). Nur 16 % kamen mit dem Auto und von diesen parkten 37 % im Viertel am Straßenrand, bezogen auf alle Besucher also 6 % – ein deutlicher Hinweis, wie unsinnig die Fixierung auf die Autoerreichbarkeit ist. Das größte Problem zeigt sich aber bei den Besuchszwecken. Nur jeder zweite dort angetroffene Passant machte am Befragungstag im Viertel eine Erledigung, die übrigen gingen nur hindurch. Den Begriff „Hackenviertel“ kannten 42 % der im Viertel Befragten nicht, von der Initiative der Händler hatten 85 % noch nie gehört.
Die Meinungsfragen, die Passanten und Händlern gestellt wurden, ergaben insgesamt ein positives Bild. Selbst die Verkehrsbelastung sah nur etwa jeder Dritte als Problem an. Dies darf jedoch nicht als „Entwarnung“ interpretiert werden, sondern zeigt, dass viele sich nicht vorstellen können, welche Qualitätspotenziale dieser Teil der Münchner Innenstadt birgt, der noch am ehesten das Gefühl des „Bürgerlich-Historischen“ vermitteln kann.
Der vermeintlich geringe Handlungsdruck macht auch verständlich, wie zögerlich der Entscheidungsprozess zum Hackenviertel abläuft. Im Oktober 2009 beschloss der Stadtrat, ein Gutachten zum Hackenviertel zwischen Neuhauser-/Kaufinger Straße und Oberanger in Auftrag zu geben; im Juni 2010 wurde der Auftrag erteilt und 2011 wurde das Gutachten der Stadt überreicht. Sein Inhalt darf allerdings erst nach Kenntnisnahme durch den Stadtrat veröffentlicht werden; der Termin dafür wurde bereits mehrfach verschoben und ist z. Zt. noch ungewiss.

Der Umgang mit der Sendlinger Straße und dem Hackenviertel (aber auch mit dem Tal) veranschaulicht die Schwierigkeiten bei der Weiterentwicklung eines Qualitätskonzeptes für die öffentlichen Räume der Innenstadt. Dabei geht es um mehr als die Ausweitung der Fußgängerzone. Erforderlich ist ein Gesamtkonzept für eine zukunftsfähige Innenstadt. Dazu gehört eine Qualitätsoffensive, die angesichts eines expandierenden e-commerce darauf setzt, die „originale Begegnungsbühne Innenstadt“ emotional so attraktiv zu gestalten, dass sie auch die Internet-Generation anzieht und dass sie als weicher Standortfaktor für die kreative Klasse die Nachteile überhöhter Lebenshaltungskosten etwas kompensiert. In Zeiten leerer öffentlicher Kassen erfordert dies, dass Immobilieneigentümer und Geschäftsleute der Innenstadt Mitverantwortung übernehmen. Die großen Potenziale einer Public-Private Partnership zeigt die Hansestadt Hamburg. Dort wurde 2005 ein Gesetz zur Einführung von Business Improvement Districts (BID) beschlossen (inzwischen novelliert als „Gesetz zur Stärkung der Einzelhandels-, Dienstleistungs- und Gewerbezentren GSED). Dabei schließen sich Immobilieneigentümer und Geschäftsleute zu Standortgemeinschaften zusammen und erarbeiten für ihren Bereich Verbesserungsmaßnahmen, die über die finanziellen Aufgaben der Stadt hinausgehen. Sie stellen einen Antrag bei der Stadt mit einem auf drei bis fünf Jahre angelegten Finanzierungs- und Durchführungsplan. Falls nicht mehr als ein Drittel der Betroffenen widerspricht, beschließt die Stadt den BID, zieht die Beiträge ein und leitet sie an das von den Eigentümern mit der Durchführung beauftragte Unternehmen weiter – es gibt also keine „Trittbrettfahrer“ mehr. In der Hamburger Innenstadt sind vier BIDs eingerichtet (z.T. bereits in zweiter Generation) und zwei in Vorbereitung – sie decken fast die ganze Innenstadt ab!

Die gesetzlichen Voraussetzungen wurden inzwischen durch sechs Bundesländer erlassen und werden von drei weiteren vorbereitet (s. auch im Internet BID News und BID-Gesetz Hamburg). Die bayerische Staatsregierung ist allerdings bisher nicht bereit, den Eigentümern die Möglichkeit zur eigenverantwortlichen Selbsthilfe einzuräumen und setzt stattdessen paternalistisch auf staatlich kontrollierte Modellvorhaben unter dem Motto „Leben findet InnenStadt“.

Der Rückblick zum Fußgängerbereichs-Geburtstag sollte deutlich machen, dass es um mehr geht, als Straßen und Plätze zu pflastern: auf der Grundlage umfassender Konzepte und Maßnahmenbündel müssen die Voraussetzungen für eine langfristig nachhaltige Lebensqualität geschaffen werden. Die Stadt München hat mit ihrem 2007 veröffentlichten Innenstadtkonzept die Richtung aufgezeigt, allerdings darauf verzichtet, visionäre Zukunftsperspektiven ins Blickfeld zu rücken. Deshalb soll hier eine solche Zukunftsvision in Erinnerung gerufen werden, die eine Arbeitsgruppe des Münchner Premium-Autoherstellers BMW zu Weihnachten 2001 der Stadt München überreicht hat. Bei dem als „Blaue Zone“ bezeichneten Konzept (nicht zu verwechseln mit der gleichnamigen Parkregelung in der Altstadt) handelt es sich zwar um eine Utopie; in dieser stecken aber realistische Gedanken, wenn man den Wunsch nach mehr Lebensqualität in der Stadt sowie die in den nächsten 40 Jahren auf uns zukommende Notwendigkeit zum Energiesparen und zur CO2-Minderung ernst nimmt. Die im Konzept vorgeschlagene Ausweitung des Fußgängerbereichs um viele Kilometer und die weitgehende Umwandlung in eine Grünzone bei gleichzeitigem Abriss zentraler Parkbauten zu Gunsten urbaner Nutzungen würde die Innenstadt nicht abtöten, sondern aufblühen lassen. München, das in Bezug auf heutige Möglichkeiten eher als Schlusslicht wirkt, könnte wieder zum Leuchtturm werden.

Bilder © Baureferat, LH München

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