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Warum tust du das? Mit Terry Swartzberg von Stolpersteine für München

Florian Kappelsberger

Deutlich stechen die kleinen, goldenen Messingplatten aus dem grauen Kopfsteinpflaster hervor, sodass man mit dem Blick geradezu über sie stolpert. Die Namen und Daten auf den Gedenktafeln erzählen die einzelnen Schicksalen derer, die von den Nationalsozialisten verfolgt und ermordet wurden – Jüdinnen und Juden, Sinti und Roma, Kämpfer*innen im Widerstand. Man kennt diese ‘Stolpersteine’ aus vielen deutschen und europäischen Städten, in München sind sie allerdings vergleichsweise selten.

Terry Swartzberg, Leiter der Initiative Stolpersteine für München, will das ändern. Er ist in New York aufgewachsen und lebt seit mehr als 30 Jahren in München, heute arbeitet er als Ethical Campaigner und Botschafter für die Stolpersteine weltweit. Im Interview verrät er, wie er zum Projekt gestoßen ist, wie die Initiative arbeitet und was er für die Zukunft plant. Eigentlich hatten wir vor, uns für das Gespräch in Schwabing zum Stolpersteine-Putzen zu treffen. Wegen des verregneten Wetters sitzen wir stattdessen in Terrys kleiner Wohnung in Au, jeder vor einer Tasse Kräutertee – l’chaim!

Terry Swartzberg putzt Stolpersteine mit Schülerinnen der 8. Klasse.

Terry, was sind Stolpersteine?

Im Jahr 1991 hatte Gunter Demnig, der ‘Vater’ der Stolpersteine, die Idee, mit Markierungen an die deportierten Sinti und Roma in Köln zu erinnern. Ursprünglich wollte er sie an der Wand anbringen, das ging aber vom Eigentümer aus nicht. Dann hat er gesagt: Okay, wir machen sie in den Boden. 1996 fing er an, in Kreuzberg Stolpersteine zu verlegen – inoffiziell, ohne Genehmigung. Die Idee war ein riesiger Erfolg: 1997 kam es zur ersten offiziellen Stolperstein-Verlegung, interessanterweise im Salzburger Land für zwei Zeugen Jehovas, die Brüder Nobis, die sich geweigert haben, Hitler zu dienen. Das zeigt die Breite der Stolperstein-Bewegung.

Wie kam es dazu, dass Du dieses Projekt in München leitest?

Ich bin sehr spät dazugekommen. Im November 2008 war ich in Ludwigshafen, wo mein bester Freund lebt. Wir hasteten abends nach Hause, es war schrecklich kalt, und plötzlich erblickte ich so etwas golden Glänzendes auf dem Boden. Ich bin also wirklich buchstäblich über die Stolpersteine gestolpert. Im Jahr 2010 bin ich dann bei der Münchner Initiative eingestiegen, und ein Jahr später wurde ich zum ersten Vorstand gewählt.

Wie reagiert die Stadt darauf?

Die Stolpersteine sind zweimal vom Stadtrat auf öffentlichem Grund verboten worden, zuletzt 2015. Aber es gab und gibt wahnsinnig viel Unterstützung: Ich habe 100.000 Bürgerinnen und Bürger überzeugt, eine Online-Petition zu unterschreiben – die erfolgreichste Petition in der Geschichte der Bundesrepublik. Dreizehn Opfergruppen, mehr als 140 jüdische Gemeinden in Deutschland und neun politische Parteien in München haben sich für die Stolpersteine ausgesprochen, aber es hat nichts geholfen.

Trotzdem verlegen wir Stolpersteine: In diesem Moment gibt es 123 Steine an 35 Standorten in München. Das hört sich vielleicht nach relativ viel an, aber es wurden 5.400 Münchner Juden ermordet und noch viel mehr verfolgt – auch Sinti und Roma, Homosexuelle, Euthanasie-Opfer. In München könnten wir ohne weiteres bestimmt 11.000 Stolpersteine verlegen, wir stehen ganz am Anfang. In Berlin gibt es 9.000 Stolpersteine, in Hamburg über 6.000. Europaweit gibt es in 26 Ländern mehr als 86.000 Stolpersteine, das ist das größte, erfolgreichste und demokratischste Gedenkprojekt, das die Welt je gesehen hat. Insofern hinkt München ein bisschen hinterher.

Es gibt auch Gegenwind für das Projekt der Stolpersteine, darunter von der Israelitischen Kultusgemeine München. Deren Präsidentin Charlotte Knobloch kritisiert beispielsweise, man würde dadurch die Opfer des Nationalsozialismus mit Füßen treten.

Wie siehst Du die Kritik an den Stolpersteinen?

(Er gähnt demonstrativ.) Ich antworte darauf nicht, ich brauche das nicht zu kommentieren. Das Geschehene kommentiert es ausführlich. Wenn es so wäre, dass man durch die Stolpersteine auf den Opfern herumtritt, dann wären sie nicht das erfolgreichste Gedenkprojekt der Welt. Insofern ist Frau Knoblochs Meinung – bei allem Respekt – eine isolierte Meinung und wird außerhalb von München wenig wahrgenommen.

Wie ging es nach dem Urteil von 2015 weiter?

Wir umgehen das Verbot nicht: Man darf auf Privatgrund Stolpersteine verlegen, und das machen wir. Wir werden oft von Eigentümerinnen und Eigentümern angesprochen, ob Opfer in ihrem Haus gelebt haben. Leider ist es oft so, dass der Privatgrund nicht geeignet ist: Jeder Stolperstein muss gut sichtbar sein, wir wollen die Stolpersteine nicht im Hinterhof verstecken. Oft verschicken wir auch Briefe: Wir wissen, wo Opfer gelebt haben und wo es für Privatverlegungen geeignet wäre, also sprechen wir sehr viele Leute an, und da kommt große Resonanz.

Es ist auch nicht ganz so, dass es Stolpersteine nur auf Privatgrund gibt. Es gibt sie natürlich auch auf öffentlichem Grund in München, auf staatlichem Grund. Das wunderbare Ägyptische Museum hat bereits sechs Stolpersteine im öffentlichen Raum, bald werden sie zehn haben.

Wie ist das Echo unter Münchnerinnen und Münchnern?

Ich würde sagen, 99% aller Reaktionen sind sehr positiv, sogar euphorisch. Die Menschen wollen Stolpersteine verlegen, wir haben in den sozialen Medien eine Gruppe mit fast 2.000 aktiven Mitgliedern – das ist riesig. Und unter den 100.000 Bürgerinnen und Bürgern, die unsere Online-Petition unterschrieben haben, waren die meisten aus München. Wir kriegen andauernd Emails und Briefe, die Leute wünschen uns alles Gute und wollen helfen.

Wie kann man euch unterstützen?

Unsere Initiative ist auf ehrenamtliche Arbeit angewiesen. Gott sei Dank gibt es sehr viele Menschen, die etwas leisten. Was man immer machen kann, ohne uns zu fragen: Stolpersteine putzen. Das ist ja eine Kunst an sich, mit Poliboy (meine Empfehlung) oder mit ausgequetschten Zitronen. Stolpersteine müssen in der Regel mindestens einmal im Jahr geputzt werden, die meisten machen es ja weltweit am 9. November (Reichspogromnacht) oder 27. Januar (Gedenktag für die Befreiung von Auschwitz) oder an Yom HaShoa (israelischer Gedenktag für die jüdischen Opfer). Weil wir die schönste und sauberste Stadt der Welt haben, putzen wir unsere Stolpersteine in München andauernd. Ich gehe rum wie ein kleiner Putzteufel: Ich habe in meinem Rucksack meistens Putzzeug dabei, ich springe vom Rad und putze meine Stolpersteine. Und ich lade alle ein, das auch zu machen.

Was plant die Initiative in Zukunft?

220 Stolpersteine sind im Moment gelagert. Wir machen jetzt eine große und gezielte Aktion, damit diese Stolpersteine in den Boden kommen. Wir denken, dass die Stadt München es sich irgendwann mal überlegen wird, vielleicht tolerieren sie es. Aber Hauptsache, wir verlegen Stolpersteine. Wir hatten schon viele Verlegungen dieses Jahr, in München verlegen wir ungefähr alle drei bis vier Wochen neue Steine. Wir mischen uns in die Politik nicht mehr ein, wir brauchen das nicht zu kommentieren – wir verlegen Stolpersteine.

Terry Swartzberg (links), Leiter der Initiative Stolpersteine für München, mit dem Künstler Gunter Demnig (rechts), ‘Vater’ der Stolpersteine.

Was bedeuten die Stolpersteine heute?

Der Vorteil der Stolpersteine ist, dass sie einen immer überraschen. Es geht mir genau so wie allen anderen: Ich bin in einer fremden Stadt – Venedig, Rom, Oslo, Thessaloniki – und plötzlich sehe ich Stolpersteine. Dann wird mir klar: Hier haben Opfer gelebt. Die Stolpersteine sind mitten in unseren Städten, mitten im Leben.

In Deutschland haben wir Gott sei Dank eine äußerst robuste Zivilgesellschaft, das hat sich gezeigt. Wir haben gedacht, vielleicht kippt es irgendwann – mit der AfD, mit den Anschlägen in Halle und Hanau –, aber gerade steht unsere Zivilgesellschaft stärker da als je zuvor. Ich behaupte, das liegt auch an Deutschlands vorbildlicher Erinnerungskultur. Und wie Angela Merkel, Heribert Prantl und Josef Schuster (Präsident des Zentralrats der Juden) gesagt haben: Stolpersteine sind ein Kernelement dieser Erinnerungskultur. Dadurch wissen die Leute sehr genau, wie es 1933 zustande gekommen ist, was die Auswirkungen waren, und wo Rassismus und Antisemitismus hinführen.

Ich denke, die Stolpersteine sind ein Blitzableiter, ein tägliches Mahnmal. Sie sagen nein zu Rassismus, sie sagen nein zu Antisemitismus, und sie sagen nein zu Hass und Diskriminierung in all ihren hässlichen Arten und Weisen.

Mehr zur Initiative Stolpersteine für München findest Du auf der Website. Mithilfe der Stolperstein-App kannst Du die verlegten Gedenksteine auf einer interaktiven Karte entdecken. Hier erfährst Du außerdem mehr über Terry Swartzbergs anderes Projekt, Faces for the Names.


Fotos: © Terry Swartzberg

2 Comments
  • Christoph Wilker
    Posted at 12:30h, 18 Mai

    Großes Kompliment an Florian Kappelsberger und natürlich an Terry Swartzberg für das niveauvolle und inhaltsreiche Interview. Es verdient eine weite Verbreitung.

  • Ron
    Posted at 17:32h, 21 Januar

    Eine wirklich interessante Aktion gegen das Vergessen: “Ich denke, die Stolpersteine sind ein Blitzableiter, ein tägliches Mahnmal. Sie sagen nein zu Rassismus, sie sagen nein zu Antisemitismus, und sie sagen nein zu Hass und Diskriminierung in all ihren hässlichen Arten und Weisen.” Das kann man nur unterschreiben !

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