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Was wir liebten – Ein Theaterexperiment mit alten Menschen

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Sollte es nicht ein emotionaler Selbstläufer sein, wenn man fünf alte, gar uralte Personen in eine Institution setzt, die dazu auch noch Erlöserkirche heißt und sie höchst subjektiv „von damals und heute“ erzählen lässt? Reagiert der Zuschauer darauf nicht naturgemäß gerührt, ganz unkritisch?
Regisseurin Karin Breece scheint sich da selbst nicht so sicher zu sein.

Sie untertitelt „Was wir liebten“ mit „ein Theaterexperiment“ und immunisiert sich, ihr Konzept und ihre Protagonisten so bereits im Vorfeld gegen jegliche Art von Kritik, weil „nichts vorhersehbar, nichts planbar“ sei in diesem Experiment mit „großen körperlichen Einschränkungen“.

Wir sollen also nicht zu viel erwarten? Das raubt unnötig Souveränität. Nicht nur dem Stück, auch ihren Darstellern. Vielleicht ist es aber auch ein Eingeständnis, dass die Konzeption der Inszenierung an einigen Stellen das schwächere Element eines – ja – äußerst rührenden Abends ist.

Geschlossen betreten Marylka Bender (104 Jahre), Karlheinz Hertha (77), Uta Maaß (85), Theodora Winter (88) und Rosemarie Leidenfrost (89, keine Romanfigur, tatsächlicher Name) die Bühne. Das dauert lange. Das selbstständige Anbringen der Mikrophone dauert noch länger. Ein Mittel, das teilweise hervorragend funktioniert: Einerseits sind dort gebrechliche Körper auf der Bühne, deren Beobachten den Zuschauer effektiv entschleunigt und in die dargestellte bedächtige Lebensführung hineinzieht. Andererseits haben die Gäste in der hinteren Reihe leider ausreichend Zeit, sich zum Störenfried und inszenatorischen Kritikpunkt umzudrehen, der ihnen penetrant in den Nacken ächzt: Ein atmender Lautsprecher.

Das Atmen wird sowieso zu einem Leitmotiv des Lebendigen und zu einem Brückenschlag zwischen Bühne und Publikum. Atmen tun wir alle. Das Atmen aus dem Lautsprecher. Es ist unangenehm. Gemeinsam mit den Protagonisten zerren wir das Atmen an anderen Stellen weg von der automatisierten, unbewussten Routine, hin zu einer erfahrbaren physischen Aktivität. Man vollzieht im Kollektiv eine Yoga-Übung, mit den Alten im Kopf, oder zählt, wie oft man in der Minute ein- und ausatmet.

Erkenntnisgewinn:
Je älter wir sind, desto schneller atmen wir.
Je älter wir sind, desto weniger atmen wir.
Je älter wir sind, desto lauter atmen wir.
Das trifft nie für alle zu.

‘Wahrscheinlich trifft nie alles für alle zu.’ Das klingt wahr, aber banal. Und tatsächlich besteht ein Großteil der Texte aus einer Anhäufung von routinierten Banalitäten. In manchen Momenten funktioniert das nicht, dann offenbaren sich die Vorgaben zu sehr und es kommt bei den Laiendarstellern zu Stichwortlieferungen, die in einem vorhersehbaren Kalauer münden. Das findet man dann manchmal nicht mehr charmant. Manchmal sogar wirklich schade. Das haben die Protagonisten gar nicht nötig.

Viel schöner ist es, wenn sie in Erinnerungen hängen und uns davon ungeniert erzählen, von dem einen Urlaub mit der Marianne auf Korsika. Es klingt ein wenig spießig und kitschig, wenn Herr Hertha davon erzählt, wie sie im Sonnenuntergang ein Hummerbuffet genießen und er anschließend seinen Sohn und seine Frau beim Tanzen beobachtet. Aber auch so bestechend ehrlich. Da wird der Urlaub auf Korsika für uns zum größten Glück. Das Spezielle im Allgemeinen, eben auch im Banalen finden, das ist die Kunst des Geschichtenerzählens.

Und wenn die Damen und der Herr anfangs minutiös ihren Tagesablauf darlegen, der für den höchstwahrscheinlich jüngeren Zuschauer oftmals die Inkarnation jener routinierten Banalität zu sein scheint, dann versteht man. Natürlich nur langsam. Aber man versteht, dass diese alten Menschen körperlich fragil sind und einen sehr viel reduzierteren, aber klar strukturierten Tagesablauf benötigen, in dem die wenigen Tätigkeiten jedoch intensiver ausgeübt werden.
Zitat Bender: „Jetzt im Alter lebe ich. Als Junge wurde ich gelebt.“ Durchatmen.

Dennoch wehren sich die Menschen auf der Bühne gegen Verallgemeinerungen wie „Die Alten“. Wahrscheinlich trifft nie wirklich alles für alle zu? Sie verteidigen sich gegen die Kategorisierung mit persönlichen Anekdoten, Fotos und Alterserkenntnissen. Sie leben permanent in der Erinnerung. Das ist der mit Abstand überzeugendste und emotionalste Teil des Abends.

Mit Marylka Bender in der Hauptrolle. Die 104-jährige Autorin braucht keine Brille und kein Hörgerät. Ihre Stimme ist kräftig und jeder zweite Satz zitierwürdig. Sie erläutert ihre „Altersanarchie“, bringt viel mehr Verständnis für die Jugend als für „jammernde Greise“ auf oder gesteht, dass sie beinahe jeden Tag prokrastriniere. Und plötzlich erzielt der atmende Lautsprecher doch seine intendierte Wirkung und man spürt ihn, den sprichwörtlichen Tod im Nacken. Diese geistig so ungemein beeindruckende Frau, die in drei europäischen Ländern gelebt hat, sich heimatlos fühlt und dies auch noch klug und poetisch artikulieren kann, hat den Körper einer 104-jährigen und wird in nicht allzu ferner Zukunft sterben. Wir sind entsetzt.

Das Thema Tod, unterschwellig omnipräsent, lange Zeit ausgespart, und nun beinahe erlösend endlich angerissen: „Ich hoffe, dass ich es hinnehmen kann.“, sagt Marylka Bender. Sie liest ein selbstgeschriebenes Gedicht. Vorher Frau Maaß: “Wenn ich jetzt hier, in 10 Minuten, tot umfallen würde, wäre es gut.” Schweigen. So unwahrscheinlich ist das ja gar nicht.
Doch schon ist das Thema wieder vorbei und es wird ein nächstes stichwortartig angesprochen. Erneute Inszenierungsschwächen: Viele Themen werden zu oberflächig angerissen. Was ist – das muss an diesem Ort gefragt werden – mit der Religion? Wie sind sie damit aufgewachsen? Glauben sie an ein Leben nach dem Tod oder an eine „Null ohne Umrandung“, wie Frau Bender es formuliert. Haben sie Angst vor Demenz? Was ist mit dem Krieg? Welche Rolle nahmen die Eltern ein?

Solche Fragen werden dann hinweggefegt von Herrn Herthas Akkordeon. Einer der letzten Sätze in dem Stück ist vielleicht tatsächlich als Anklage oder als Warnung zu verstehen: „Ich wünsche mir für die ganze Generation, von den Jungen mehr gefragt zu werden. Denn wenn wir weg sind, ist alles weg.“

Viele Fragen wurden in dem Stück gestellt. Und viele wurden leider nicht beantwortet. Aber viele Fragen nehmen wir mit. Aus der Erlöserkirche hinaus, mit nach Hause. Auf die Straße. In den Supermarkt bei uns um die Ecke, in der manchmal die alte Frau zu lange braucht um das Kleingeld aus ihrem Portemonnaie heraus zu kramen, oder wo der Alte sich auf dem Gehweg aufregt, dass man dort doch tatsächlich mit dem Rad fährt. Die Alten also, atmen genauso viel wie wir. Und sie tun es laut.

Im Folgenden noch einige Impressionen der Aufführung.

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Hier noch ein kleiner Trailer zur Theateraufführung.

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WAS WIR LIEBTEN – Ein Theaterexperiment mit alten Menschen from ISO f IVE on Vimeo.

Das Theaterstück kann noch am 8.11. und 10.11. besucht werden. Karten gibts hier.

Bildrechte: © Leo Konopizky & Jurgen Kolb

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