Leben, Stadt

Wo ist die Revolution der Erotik?

Meredith Haaf
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Wann auch immer sie genau begann, ob mit den Kinsey-Reports in den 50er-Jahren oder der Einführung der Anti-Baby-Pille 1962 – wie wir heute Sex haben, hängt mit der sogenannten sexuellen Revolution im vergangenen Jahrhundert zusammen. Glücklicherweise, denn die Sexualität vor dieser Zeit dürfen wir uns in erster Linie als eine mit Ängsten, Vorbehalten und Tabus überfrachtete Angelegenheit vorstellen.

kinseyfrontsmall

Es mussten viele Bücher erscheinen, Sexualkontroversen ausgefochten werden,es musste eine neue Frauenbewegung entstehen und die Popmusik erfunden werden. Erst dann entschied sich der westliche Kulturkreis, Beziehungen körperlicher   Art von den sittlich geregelten Verhältnissen zu trennen, welche die Gesellschaft bis dahin zusammenzuhalten schienen. Gemessen an der Kulturgeschichte ist es wirklich noch nicht lange her, dass der Mensch ins Bett geht, mit wem er wünscht. Das gilt vor allem für Frauen. Als 1962 die Anti-Baby-Pille auf den Markt kam, war es erstmals möglich, Sex nicht mehr primär als Gefahrenquelle (wegen unerwünschter Schwangerschaften und deren Folgen), sondern als schöne Freizeitbeschäftigung zu betrachten. Nicht nur die Frequenz und die Umstände von Sex änderten sich – auch die Qualität machte einen Quantensprung. Bücher wie die Kinsey-Reports oder die Aufklärungsfilme von Oswalt Kolle zeigten den Menschen als erotisches Wesen und machten den Weg frei für ein neues Selbstverständnis. Feministinnen schrieben und sprachen so lange und ausführlich über die Klitoris und die Vagina, bis auch der letzte Mann verstanden hatte, dass seine Frau auch ein Recht auf einen Orgasmus hatte. Gleichzeitig liberalisierte man die Gesetze: Vorbei die Zeiten, als Ehebruch ein Straftatbestand war; irgendwann endete dann auch die Verfolgung Homosexueller.

Und doch wäre es zu einfach zu sagen, die sexuelle Revolution habe die westliche Hemisphäre zu einer erotisch befreiten Regenbogenzone gemacht. Denn gerade was sprachliche und körperliche Konventionen betrifft, ist unsere Kultur heute viel stärker eingezwängt als früher. Irgendwann ist uns die ganze Sache aus dem Ruder gelaufen. Das enge Korsett heißt: „SEXY“.

Für den Philosophen Michel Foucault hat die sexuelle Liberalisierung eine Art Zwang zum Geständnis ausgelöst – statt den Menschen in seiner Erotik frei zu lassen, wird der Drang kultiviert, sie zu besprechen, einzuordnen, überschaubar zu machen. Das äußert sich darin, dass das, was früher verschwiegen oder nur heimlich besprochen wurde, heute permanenter Tagesordnungspunkt ist. Dasselbe gilt für die Welt der Bilder. Sexualisierte, vor allem weibliche Anatomie ist heute überall – in Magazinen, Werbung und online eh. Es gibt im heutigen Abendland kein Entkommen vor knapp bekleideten Frauen, vor dieser Körperästhetik, die glatt, prall und glänzend ist. „Sexy“ ist heute die Abtrennung des sexualisierten Körpers von der echten, menschlichen Erotik. „Sexy“ ist das, was pornokompatibel und massenwirksam ist, sexy hat etwas mit Marktwert und einer kommerziellen Aura zu tun. „Sexy“ ist überall und wird mit allem assoziiert: Autos, Möbeln, Essen und vor allem Reichtum. Niemand will heute noch frei oder gerecht sein, aber bitte „sexy“ und dafür wird gehungert, geschwitzt, gespritzt und wenig gedacht.

So gesehen hat sich die sexuelle Revolution selbst gefressen. Befreit sind wir nicht. Die Zwänge heute sind vielleicht auf den ersten Blick ästhetischer Natur, doch sie sind genauso dominant wie ein archaischer Sittenkodex. Was wir jetzt brauchen, ist eine Revolte in der Erotik.

(Dieser Text erschien auch im aktuellen mucs Magazin. Meredith hat im letzten Jahr zusammen mit Barbara Streidel und Susanne Klingner das Buch “Wir Alphamädchen. Warum Feminismus das Leben schöner macht” geschrieben und bloggt auf maedchenmannschaft.net.)

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