Abbruch des Uhrmacherhaeusls
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Das Uhrmacherhäusl in Giesing: Weg ist weg

Marc-Julien Heinsch
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Die berühmteste Baulücke Münchens liegt im Stadtteil Giesing. Mitten in der Stadt mit Deutschlands höchsten Mietpreisen. Ein Krimi um ein zerstörtes Denkmal und die Frage, ob es noch zu retten ist.

Der Mönch tritt vor: „Was hier gemacht wurde, ist eine Straftat.“ Hinter dem Mann in der schwarzen Kutte klafft zwischen zwei Häusern ein Loch. Wo einmal ein Haus stand liegt heute ein ein krummes Gebilde. Schwarze Dachpappe schützt ein paar Mauerreste vor der Witterung. Vom Fenster eines Nachbarhauses hängt ein weißes Banner. Mehrere Meter lang, schwarze Schrift, Kreuze: „Illegaler Abriss, kriminelles Vorgehen – Obere Grasstraße 1 R.I.P“.

„Was hier gemacht wurde, ist eine Straftat“, der Mönch wird lauter, „dieser Mann gehört nach Stadelheim!“ Ins Gefängnis also. Die Justizvollzugsanstalt Stadelheim liegt nicht weit von hier im Münchner Stadtteil Giesing. Der Mann, der dorthin gehören soll, ist der Besitzer der Ruine hinter dem Mönch. Dem, was vom Haus in der Oberen Grasstraße 1 noch übrig ist.

Es ist der erste September 2020 und der Mönch eigentlich gar kein Mönch. Seine Stinkwut aber, die ist echt. Er heißt Klaus Bichlmeier, ist ein Ur-Münchner. Heute gibt er den himmlischen Richter in einem satirischen Theaterstück. Er hat es selbst geschrieben. Zum dritten Jahrestag des Abrisses hat die Bürgerinitiative „Heimat Giesing“ in die Obere Grasstraße eingeladen. Gut 60 Interessierte stehen verteilt auf dem Kopfsteinpflaster herum. Sie blicken auf Bichlmeier und die Ruine hinter ihm: Die berühmteste Baulücke Münchens.

An ihrer Stelle stand einmal ein Haus mit einem Namen. Uhrmacherhäusl nennen es die Giesinger. Nach dem Handwerker, der darin bis zu seinem Tod gewohnt hatte. Rechts der Isar, drei Kilometer vom Marienplatz entfernt. Um 1840 gebaut, war das Häuschen mit dem bröckelnden hellblauen Putz mehr als 170 Jahre alt. Es steht unter Denkmalschutz, hat noch immer seinen Platz in der Denkmalliste der Stadt (Vgl.: Denkmalliste der Stadt München, S. 595 und S. 10 f.).

Im Spätsommer 2017 passierte dann, was der Münchner Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) später einen „Skandal“ nennen wird: Bei Sanierungsarbeiten am Dachstuhl schlug ein Bagger ein Loch ins Haus. Anwohner riefen die Polizei, ein Baustopp wurde verhängt. Am nächsten Tag, dem 1. September 2017, riss der Bagger das Uhrmacherhäusl bis auf die Giebelwände nieder. Übrig blieben eine Ruine und entsetzte Anwohner*innen.

© HeimatGiesing

Bis heute ermittelt die Staatsanwaltschaft, wer verantwortlich ist. Gemeinschädliche Sachbeschädigung lautet der Verdacht. Er fällt auf die Angestellten der Baufirma, die das Haus abgerissen haben sollen. Und auf den Eigentümer des Grundstücks. Auf Anfrage erklärt eine Sprecherin der Staatsanwaltschaft: „Zahlreiche weitere Zeugenvernehmungen und die Notwendigkeit des Vorgehens über Rechtshilfe lassen einen baldigen Abschluß der Ermittlungen leider noch nicht zu.” Was wirklich passiert ist und ob es zur Anklage und Eröffnung eines Strafverfahrens kommt, müssen die Ermittlungen zeigen. Ihr Ende ist nicht in Sicht.

Angst vor einem Präzedenzfall

Fest steht: Mit seinem Abriss ist das Denk- zum Mahnmal geworden und die Obere Grasstraße 1 zu einem Ort, an dem die Giesinger protestieren. „Es ist ein Symbol für alle hochspekulativen Aktionen von Investoren münchen- und deutschlandweit“, sagt Angelika Luible. Aus ihrer Wohnung im ersten Stock kann sie direkt auf die Abbruchstelle schauen. Der illegale Abriss vor drei Jahren hat sie zur Aktivistin gemacht. Damals gründete Luible mit anderen Anwohner*innen die Bürgerinitiative “Heimat Giesing”. Seitdem ist die Frau mit dem blonden Pony und der randlosen Brille bei nahezu jeder Protestaktion gegen den Abriss präsent.

Anfangs fanden Mahnwachen im Wochenrhythmus statt. Bundesweit berichteten Medien über den Fall. Die Stadt München unterstützte die Forderung der Anwohner*innen: Das Uhrmacherhäusl sollte wieder aufgebaut werden – genauso wie es einmal aussah. Oberbürgermeister Reiter (SPD) besuchte die Abbruchsstelle, dankte den Menschen von „Heimat Giesing“ für ihren Einsatz. „Profitgier frisst unsere Heimat und ihre Geschichte(n)“, steht auf einem ihrer Plakate. Vor der Ruine des Uhrmacherhäusls, mitten in München, spielt sich eine der großen sozialen Fragen der Gegenwart ab: Wer kann sich das Wohnen in der Großstadt noch leisten?

© HeimatGiesing

Insgesamt 500.000 Euro Strafe drohen den Verantwortlichen des Abrisses am Ende eines Bußgeldverfahrens. Eine weit höhere Summe ließe sich mit dem Neubau eines Mehrfamilienhauses verdienen. In München, der Großstadt mit den höchsten Preisen pro Quadratmeter Wohnfläche in ganz Deutschland – egal ob zur Miete oder zum Kauf. Deshalb kämpfen Angelika Luible und ihre Mitstreiter für einen originalgetreuen Wiederaufbau des Uhrmacherhäusls. Genau so wie es auf dem Logo von „Heimat Giesing“ zu sehen ist: Hellblaue Fassade, kleine Fenster, rotes Satteldach und Schornstein. Es geht ums Prinzip. Eine Kampfansage weit über Giesing hinaus. An Investoren, die mit Wohnraum spekulieren.

Klaus Bichlmeier in seiner Mönchskutte macht jetzt Platz. Eine Frau im Rattenkostüm tritt vor. Neben Schwanz und Schnauze trägt sie Krone und schwarzen Anzug. Aus ihren Taschen quellen Geldscheine. Ein paar Zuschauer schreien bei jedem Auftritt: „Verbrecher! Hau ab!“ Die Ratte im Anzug antwortet: „Ich als Spekulant, ich muss doch auch meine Arbeit machen.“ Als „Andi“ stellt sie sich dem Publikum vor. Sie beauftragt eine Baufirma mit dem Abriss des Uhrmacherhäusl, nur um dann zu beteuern, alles sei nur “ein Versehen” gewesen.

In der Realität heißt der Grundstückseigentümer Andreas S. 2016 hat er das Grundstück samt Häusl von der Erbengemeinschaft des verstorbenen Uhrmachers gekauft. In Giesing hat er keine Freunde.

© HeimatGiesing

Was bleibt, ist ein „riesiger Schutthaufen“

Clemens Geyer, grauer Vollbart, schulterlanges Haar, wohnt mit seiner Frau schräg gegenüber des Uhrmacherhäusls. Den Abriss hat er damals miterlebt. „Der Bagger ist mit einer Vehemenz da reingefahren, ohne Rücksicht auf Verluste, keine Absperrung nichts – die Ziegelsteine sind bis zu meinem Haus rüber geflogen.“ Geyer sieht den Bagger auf einem „riesigen Schutthaufen“ stehen – und wie der Fahrer aussteigt und „im gestreckten Galopp“ davonläuft. Bis um Mitternacht trägt das THW die einsturzgefährdeten Reste bis auf Grundmauern und Giebelwände ab.

Mit einer Sanierung hatte er damals gerechnet. Nicht mit der Zerstörung des alten Gebäudes. Geyer sagt: „Auch wie die kleinen Leute gelebt haben, muss erhalten werden. Und das ist eben Giesing.“ Das Haus der Geyers steht genau wie das Uhrmacherhäusl unter Denkmalschutz. Sie sind Teil der Feldmüllersiedlung: Ein 1,3 Hektar großes Quartier aus Handwerkerhäuschen, gebaut zwischen 1830 und 1860.

Aus der Zeit gefallen mitten in die Großstadt. Kaum ein Haus sieht aus wie das andere. Mit Kopfsteinpflaster, Gärten und Hinterhofwerkstätten. Krumm und eigensinnig. Eine Arbeitersiedlung von der Art, wie sie eigentlich erst nach dem ersten Weltkrieg entstanden sind1973 kam das Bayerische Denkmalschutzgesetz. Die einzelnen Häuser wurden Baudenkmäler, die Feldmüllersieldung 1982 unter Ensembleschutz gestellt. Die Stadt München steckte 8,5 Millionen Euro in ein aufwendiges Sanierungsprogramm, unterstützte Hauseigentümer*innen bei der denkmalschutzgerechten Erneuerung. Das Uhrmacherhäusl wurde damals nicht saniert.

© HeimatGiesing

Ein Abriss aus Versehen?

2016 hatte die Stadt München den Kauf des Anwesens in der Oberen Grasstraße 1 erwogen. Ein Gutachten ergab jedoch, dass „die Wiederherstellung der Bewohnbarkeit nicht mit objektiv- wirtschaftlichem und zumutbarem Aufwand möglich“ sei. Das bedeutet, die Kosten für die denkmalschutzgerechte Instandsetzung wurden damals als zu hoch eingeschätzt, um einen Kauf durch die Stadt zu rechtfertigen. Gut einen Monat später erwarb Andreas S. Grundstück und Gebäude. Ein Jahr danach lag das Uhrmacherhäusl in Trümmern und viele Münchner*innen fragten sich: Hat Andreas S. die Baufirma mit dem Abriss des Häuschens anstatt, wie er behauptet, mit der Dachsanierung beauftragt, die damals genehmigt wurde?

Die Stadt München versuchte Andreas S. 2018 zu einem originalgetreuen Wiederaufbau zu verpflichten. Der klagte gegen die Verfügung vor dem Verwaltungsgericht und bekam im Juli 2019 Recht. Der Bauunternehmer und nicht der Eigentümer müssten für die Zerstörung belangt werden, so die Richter*innen. Die Stadt habe nicht hinreichend begründet, welche denkmalschutzrechtlichen Gründe einen originalgetreuen Wiederaufbau nötig machten. Und schließlich lägen keine Beweise dafür vor, dass Andreas S. etwas anderes als die Sanierung in Auftrag gegeben habe.

Nur zu gerne hätten wir Andreas S. zu all dem befragt. Persönlich zu erreichen ist er jedoch nicht. Ein Mitarbeiter seiner Rohrreinigungsfirma sagt am Telefon, dass Andreas S. derzeit nicht mit der Presse über den Sachverhalt reden wolle. Es laufe ja schließlich noch ein Ermittlungsverfahren. Bleiben also die Schreiben der Anwälte von Andreas S., aus denen das Verwaltungsgericht in seinem Urteil vom Juli 2019 zitiert.

Bei den Arbeiten sei das Gebäude zunächst „irrtümlich“ beschädigt und am 1. September 2017 vom Geschäftsführer der Baufirma abgerissen worden. Eine beigefügte Kostenaufstellung solle belegen, dass Eigentümer Andreas S. auch bei einer größeren Neubebauung des Grundstücks kein Gewinn entstünde. Nach der Lektüre des Urteils von 2019 verwundert es kaum noch, dass die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft weiter andauern. Der Fall Uhrmacherhäusl ist, gelinde gesagt, kompliziert.

Der ehemalige Geschäftsführer der Baufirma bestätigte die Darstellung von Andreas S. gegenüber dem Verwaltungsgericht nicht nur, er nahm in einer eidesstattlichen Versicherung die alleinige Verantwortung für den Abriss auf sich. Zu dessen Zeitpunkt habe er sich jedoch in einer psychischen Ausnahmesituation befunden; der Abrissbagger sei versehentlich in der Oberen Grasstraße 1 gelandet.

Die Richterinnen und Richter des Verwaltungsgerichts vermerken in ihrer Urteilsbegründung: Diese Schilderung der Ereignisse werfe zwar ein Glaubwürdigkeitsproblem auf, andererseits seien die Beteiligten in den drei Jahren seit dem Abriss nicht von ihr abgewichen.

Ausgehöhlter Denkmalschutz

„Der Eigentümer wiegt sich ja in Unschuld“, sagt Cornelius Mager, seit 2002 Leiter der auf Seiten der Stadt München zuständigen Lokalbaukommission (LBK), „und die Unschuldsvermutung gilt, solange wir nicht das Gegenteil beweisen können.“ Mager glaubt weiter daran, einen originalgetreuen Wiederaufbau durchsetzen zu können. Gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts zu Gunsten des Eigentümers ist die Stadt in Berufung gegangen, ein zweiter Wiederaufbau-Bescheid unterwegs – jetzt adressiert an den Bauunternehmer. Doch ob der dafür aufkommen kann, ist fraglich. Denn die Baufirma von damals gibt es nicht mehr. Im November 2017 wurde ihr Eintrag im Handelsregister auf einen anderen Namen geändert, ihr Geschäftsführer ersetzt und der Unternehmenssitz wanderte von München nach Baden-Württemberg. Bereits zwei Jahre später ist auch diese Firma Geschichte. Im Juli 2019 aufgelöst vom Amtsgericht Heilbronn. Für ein Insolvenzverfahren fehlte das Geld.

Kann man sich eines Denkmals entledigen und dann frisch zur Tat schreiten, wie Cornelius Mager es formuliert? Oder greift der Schutz auch noch, wenn das Denkmal bereits zerstört wurde? Der Jurist will herausfinden, wie weit der Denkmalschutz geht. Diese Frage sei es auch, die über den Einzelfall hinaus „bundesweit wahrgenommen“ werde. Beim Bayerischen Landesamt für Denkmalpflege spricht man von einem „Fall mit großer Strahlkraft für den Umgang mit unserem kulturellen Erbe“.

Mager sagt aber auch: „Im Denkmalschutz gilt nach einigen Urteilen der Grundsatz – weg ist weg.“ Ein Bau in ursprünglicher Form und Größe könnte aber zumindest dafür sorgen, dass die Feldmüllersiedlung wieder aussehe wie zuvor. “Denn das Ensemble gibt es noch“, so Mager „und das ist weiterhin denkmalgeschützt.“

© HeimatGiesing

Das Uhrmacherhäusl wird gerächt

Andreas S. scheint keinen jahrelangen Rechtsstreit abwarten zu wollen. Bereits im Juni 2020 stellten seine Anwälte eine Voranfrage für ein Neubauvorhaben: ein Haus mit einer zusätzlichen Etage und mehr Wohnfläche als ursprünglich. Die Lokalbaukommission lehnte den Antrag im Oktober ab. Auch dagegen kann Andreas S. noch klagen. Eine einfache Lösung oder gar ein Kompromiss scheinen mittlerweile unmöglich. Nicht zuletzt, weil sich der Münchner Oberbürgermeister immer wieder für den Wiederaufbau ausgesprochen hat. Das Uhrmacherhäusl ist im vierten Jahr nach seinem Abriss Symbol und Politikum geworden.

In Bichlmeiers Satire landet „Andi“ der Spekulant am Ende in der Isar. Das Uhrmacherhäusl wird gerächt. Abseits der Bühne diskutieren Angelika Luible und ihre Mitstreiter von “Heimat Giesing” über eine andere Lösung: ein Bebauungsplan soll her. Ende Oktober gibt es grünes Licht aus dem Münchner Stadtrat – die Aufstellung wird beschlossen. Sie soll dafür sorgen, dass die unterschiedlichen Häuserformen der Siedlung, ihre kleinen Grundflächen und unterschiedlichen Höhen erhalten werden. Der Abbruch des Uhrmacherhäusls bis auf die Giebelwände und Grundmauern mache deutlich, dass der Erhalt der Handwerker-Siedlung nicht nur im Einzelfall gefährdet sei, so die Stadtbaurätin Elisabeth Merk. Zwei bis drei Jahre wird es dauern, bis der Bebauungsplan den Münchnern präsentiert wird und der Stadtrat endgültig darüber abstimmt. Dann könnte in der Oberen Grasstraße 1 nur so gebaut werden, wie es im Plan festgeschrieben ist.

Clemens Geyer setzt große Hoffnung in den Bebauungsplan. Seit drei Jahren schaut er von seinem Fenster auf Trümmer, Protestschilder und Trauerflore. Er will nicht akzeptieren, dass jemand ein Loch ins Viertel reißen und ungestraft davonkommen soll. „Sonst würde ich wirklich verzweifeln am Rechtsstaat“, fügt er nach kurzem Zögern hinzu.


Alle Fotos wurden uns freundlicherweise zur Verfügung gestellt von HeimatGiesing.

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