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Der Zeitzeuge Abba Naor – “Befreit werden, heißt noch nicht gleich frei sein”
Abba Naor erzählt seine Geschichte: Als Dreizehnjähriger wurde er ins Ghetto Kaunas deportiert, überlebte mehrere Lager und den Todesmarsch im Frühjahr 1945. Von der US-Armee in Waakirchen befreit, emigrierte er später nach Israel, wo er dann für den israelischen Geheimdienst arbeitete. Heute lebt der 95-Jährige in München und Tel-Aviv. Vom Verlust seiner Kindheit und warum er die Hoffnung nie aufgegeben hat.
Als wäre es gestern gewesen
Ein Abend im Münchner NS-Dokumentationszentrum. Der Saal mit rund 200 Plätzen ist voll. An den Seiten und hinten am Eingang stehen noch viele, die keinen Platz mehr bekommen haben. Alle warten sie auf den Vortrag von Abba Naor. Menschen unterschiedlichsten Alters sind an diesem Abend gekommen, um den Erzählungen des Zeitzeugen zuzuhören; wie er als Junge vor der SS floh, die Ghettoisierung seiner Heimatstadt Kaunas in Litauen erlebte und schließlich auf dem Todesmarsch 1945 in Waakirchen von der US-Armee befreit wurde.
Seine Geschichte ist sehr bewegend; die Art und Weise, wie er erzählt, macht es den Zuhörenden leicht, die Bilder so lebendig im Kopf zu sehen, als würde vorne auf der Bühne ein Film gezeigt werden.
Herr Naor spricht mit einer gewissen Leichtigkeit und einem erstaunlichen, aber passenden Humor. Darüber hinaus erzählt er mit einer beeindruckenden Präzision über seine Erlebnisse und Gefühle, als wäre es nicht über 80 Jahre her, sondern gestern geschehen; darüber, warum er während der gesamten Gefangenschaft niemals die Hoffnung aufgab, sich zwischen Liebe und Hass entschied und über die große Frage nach dem Warum. Warum erzählt Abba Naor bis heute immer wieder die Geschichten von den Qualen, die er als junger Mann erleiden musste, und über das Leid, seine Familie zu verlieren?
Der Mann sitzt in seinem Stuhl auf der Bühne, vor ihm ein Laptop. Er schaut sich im Saal um, betrachtet die Menschen, die gekommen sind. Er wirkt ruhig und interessiert, beobachtet das Geschehen, als wäre er Teil des Publikums und die Menschen nicht seinetwegen hier.
Als Dirk Riedel vom NS-Dokumentationszentrum München mit seiner Begrüßung beginnt, wird es ruhig im Saal. Er bedankt sich bei dem, in seinen Worten, „Stargast“ für sein Kommen. Als dieser sich erhebt, erfüllt sich der Saal mit lautem, ehrfürchtigem Applaus, als hätte Naor seine Geschichte bereits erzählt.
Anschließend begrüßt Maximilian Lütgers von der KZ-Gedenkstätte in Dachau die Zuhörenden. Er erzählt kurz über Naors Leben, wie München wieder zu seiner zweiten Heimat wurde, er ein großer FC Bayern Fan sei, sie auch gemeinsam vor einiger Zeit zusammen im Stadion waren. Mit einem Schmunzeln erzählt Lütgers über Naors Leidenschaft zum bayerischen Essen und doch seiner Abneigung gegen das hiesige Bier.
Das wunderschöne und friedliche Kaunas
Abba Naor beginnt zu erzählen, der Raum wird schlagartig still. Sein 13. Geburtstag, vor 83 Jahren, das Jahr 1941. Er blickt in die Menge: „Was danach geschah, ist ja bekannt.“ Das letzte Mal, dass seine ganze Familie zusammenkam, fröhlich miteinander feierte. Seine Heimat Litauen sei für ihn als Kind ein wunderschönes Land gewesen. Er berichtet von dem starken Gemeinschaftsgefühl: man habe nicht nebeneinander, sondern miteinander gelebt.
Er wuchs mit seinen Eltern und seinen zwei Geschwistern auf. Er beschreibt sich selbst als das “Sandwichkind”, ein älterer Bruder und ein jüngerer. Als er seinen jüngeren Bruder erwähnt, wird er kurz still und nachdenklich, blickt zu Boden: „Er war ein guter Junge“. Bis heute ist Kaunas für ihn seine Heimat, auch wenn ihm dort Schreckliches widerfahren ist.
Eines Morgens wurde Kaunas bombardiert. Der Vater versprach der Familie: „Macht euch keine Sorgen, es wird alles gut“. Bevor sich die Familie auf den Weg in den Bunker der Feuerwehrwache machte, sagte seine Mutter zu ihm, er solle seinen Kakao, den es jeden Morgen für die Kinder gab, austrinken und genießen. „Ich war immer ein komisches Kind, denn ich mochte keinen Kakao, welches Kind mag keinen Kakao?“ Damals ahnte der Junge noch nicht, dass es wahrscheinlich sein letzter war.
Als sich die Familie schließlich auf die Flucht aus der Heimat machte, kam es den Kindern mehr wie ein “schöner” Ausflug vor. Sie liefen durch Wälder und Menschen schlossen sich ihnen an. Nach einiger Zeit kehrte der Vater zurück nach Kaunas, die Kinder verstanden nicht, warum. Nach einigen Tagen wurde auch Abba von seiner Mutter nach Hause geschickt, um seinen Vater zu suchen. Sein älterer Bruder war schon zu erwachsen, sein kleinerer zu jung, seine Mutter konnte sich nicht vorstellen, dass die Nazis einem Kind etwas antun können.
Alles ist anders: „Da kommen die Juden wieder“
Er kehrte zurück in seinen, eigentlich so vertrauten, Heimatort. Doch es hatte sich alles verändert. Seine Nachbarin, mit deren Kindern er jeden Tag spielte, sah ihn und rief: „Da kommen die Juden wieder“. Sein Zuhause war leer, doch bei seiner Tante fand er schließlich seinen Vater. Nach einiger Zeit kehrten auch seine Mutter und seine Brüder nach Kaunas zurück. Sie lebten alle zusammen in einem kleinen Zimmer. Das Leben der Juden war zum Stillstand gekommen, sie konnten ihren Alltag nicht mehr weiterleben. Er erzählt: „Wir durften nicht zur Schule gehen, das fand ich anfangs eigentlich gar nicht so schlecht, welches Kind geht schon freiwillig in die Schule?“
1941 wurden die jüdischen Bürger*innen ghettoisiert, sie kamen in einen eingezäunten Bereich. Anfangs, so erzählt er, schien das eine Art “Beruhigung” zu sein. Hier waren sie unter sich und lebten wieder in einer Gemeinschaft. Die Ghettos wurden geschlossen und niemand wusste, wie das Leben dort sein würde und was sie dort erwartete. Sie waren eingesperrt, man durfte nicht einmal einkaufen gehen. Aus Hunger wurden die Kinder zum Einkaufen geschickt, denn die Eingesperrten konnten sich nicht vorstellen, dass Kinder getötet werden. Sein 14- jähriger Bruder wurde auf dem Weg zum Brot kaufen erschossen. Die Familie lebte noch lange in der Hoffnung weiter, dass er eines Tages wieder zurückkommen würde. Die Juden wurden anfangs in dem Glauben gelassen, dass sie lediglich als Arbeitskräfte dienen sollen und deshalb eingesperrt wurden.
„Eigentlich sind wir zum Tod verurteilt, die Frage ist nur wann?“
Bunker aus dem Ersten Weltkrieg rund um Kaunas wurden für das Ermorden von Juden benutzt. Naor erzählt, dass sich die Menschen in einer Reihe aufstellen mussten und ein Mann mit einer Handbewegung nach rechts oder links entschied, wer getötet wurde und wer leben durfte. Naor fragt sich: „Glauben mir die Kinder heutzutage, wenn ich erzähle, dass Menschen lebendig in eine Grube geworfen wurden?“ Das Ghetto wurde kleiner, Kaunas war nun voller Leichen.
„Meine Familie ist der Sieg über die Nazis“
Naor zeigt Bilder von drei seiner elf Urenkel. Zwei von ihnen sind heute mit Anfang zwanzig beim Militär. Nachdenklich betrachtet er die Bilder: „Was unterscheidet diese Kinder von den Kindern früher? Was wäre mit ihnen passiert, wenn sie damals gelebt hätten?“
Er erzählt von einem bewegenden Moment mit seinem Enkel, er sagte zu ihm: „Opa, wenn ich groß bin, dann erfinde ich eine Uhr, die rückwärtsgeht und dir deine Mutter und Brüder zurückbringt.“
Abba baute damals für seinen kleinen Bruder ein Versteck in einem Kachelofen, seine Kinder und Enkelkinder mussten das nicht tun. Doch er betont, dass es auch heute noch Kinder auf der Welt gibt, die ein besseres Leben verdienen. Man merkt, dass ihm die Kinder sehr am Herzen liegen: „Kinder haben ein Recht auf Leben, egal welche Religion oder Farbe sie haben!“. Wahrscheinlich auch, weil er selbst nur eine so kurze Kindheit hatte.
„Die Chancen zu überleben waren fast null“
Die Überlebenden wurden in das Konzentrationslager Stutthof bei Danzig gebracht. Frauen und Kinder wurden von den Männern getrennt. Abba ging mit seinem Vater, sie verabschiedeten sich von seiner Mutter und seinem fünfjährigen Bruder. „Wir wussten, das war der letzte Abschied“. Am 26. Juli 1944 wurden seine Mutter und sein Bruder nach Ausschwitz gebracht, dort wurden sie vergast. Naor überlegt, ob die beiden hätten nicht sterben müssen, wenn das Attentat auf Hitler eine Woche zuvor erfolgreich gewesen wäre.
In Stutthof wurde Abba auch von seinem Vater getrennt und in das KZ-Außenlager Kaufering V gebracht, um dort schwerste Zwangsarbeit zu überstehen. Die Männer, zum Teil noch Jugendliche, mussten 12 Stunden am Tag arbeiten, ohne jegliche Versorgung mit Essen oder Trinken, es war Sommer. „Sie nannten es Arbeitslager, aber eigentlich war es ein Vernichtungslager. Aber es war Arbeit uns zu vernichten, na gut.“
Naor berichtet von einem sehr bewegenden Moment in einer Schule vor einiger Zeit. Er erzählte gerade von einer Mutter und ihrer Tochter, die den Gefangenen dort regelmäßig heimlich Päckchen mit Nahrung brachten. Da meldete sich ein junges Mädchen und sagte: „Das war meine Oma!“
Der letzte Marsch vor der Befreiung
Der Todesmarsch im Jahr 1945 war die letzte Etappe von Naors Gefangenschaft.
Mit dem erzwungenen Rückzug der deutschen Truppen wurden ab Sommer 1944 die Konzentrationslager und ihre zahlreichen Nebenlager in Frontnähe aufgelöst und evakuiert. Im Januar 1945 wurde Auschwitz evakuiert. Die Todesmärsche begannen.
Naor berichtet, dass er in all den Jahren nicht aufgegeben hat, weil er nie den Glauben daran verloren hat, dass er eines Tages seine Familie wiedersehen würde. Heute, so sagt er, trägt er seine Familie immer in sich, oft träumt er von ihnen und manchmal bildet er sich ein seine Mutter auf der Straße zu sehen.
Die Häftlinge waren tagelang unterwegs, geschwächt von Hunger und Krankheit, lediglich mit dünner Häftlingskleidung und Holzschuhen. Er scherzt: „Hätten wir die Kleidung ausgezogen, hätten sie wahrscheinlich selber laufen können“, denn es hatten sich bereits kleine Tiere darin eingenistet. Dies geschah bei Regen und Schneefall. Wer nicht mehr laufen konnte und hinfiel, wurde erschossen. Er erinnert sich: „Ich sah eine alte Frau und bat sie um Brot. Sie zitterte vor Angst vor mir. Dabei hatte ich nur um Brot gebeten. Aber sie gab mir Brot. Das werde ich ihr nie vergessen.”
Am 2. Mai 1945 wurde er im Alter von 17 Jahren auf dem Todesmarsch in Waakirchen bei Bad Tölz von Einheiten der amerikanischen Armee befreit.
„Als ich befreit wurde, war ich ein alter Mann“, berichtet Naor über seinen Zustand zum Zeitpunkt der Befreiung. Ausgehungert, krank und von Läusen zerfressen. Lächelnd sagt der 95-Jährige: “Jedes Jahr werde ich ein Jahr jünger, ich habe noch viel Zeit”. In seinem Buch schreibt er, die Nationalsozialisten hätten ihm die Kindheit geraubt, deshalb fühle er sich heute den Kindern näher als den Erwachsenen.
„Ich wollte noch einmal normal leben“
Er erinnert sich: „Nach meiner Befreiung war ich allein auf der Welt und konnte entscheiden: mit Hass oder Liebe leben“. Naor erzählt, er hätte angefangen mit dem Hass auf die Menschen zu leben, das sei der einfachere Weg gewesen, doch das hat ihn nicht weitergebracht und es wurde für ihn immer schwieriger.
Im Displaced Persons Lager, einem Auffanglager für durch die NS-Politik und den Krieg sozial Entwurzelten und politisch Entrechteten – in der Regel KZ-Häftlinge – in München-Freimann trifft er nach der Befreiung seinen Vater wieder. Sie sind zwei von sieben Überlebenden der ursprünglich so großen Familie Naors. Ihr Verhältnis ist anfangs schwierig, wie geht man mit dem Erlebten und dem Verlust der restlichen Familie um? Lange Zeit reagierte der Sohn nicht auf die Briefe des Vaters. Doch als Naor selbst Vater wurde, so erzählt er, ändert sich seine Einstellung und die beiden konnten wieder eine Beziehung aufbauen. „Ich bin froh, dass ich den Glauben in die Menschen nicht verloren habe“.
Nach Kriegsende arbeitete Naor für den israelischen Geheimdienst und war in den 1980er Jahren an der Rettung äthiopischer Juden beteiligt. Der 95-Jährige lebt heute in Tel-Aviv und München, eigentlich hatte er sich damals geschworen, nie wieder einen Fuß auf deutschen Boden zu setzen.
Am Ende seines Vortrags wird er von einem Zuhörer aus dem Publikum gefragt, wie es ihm seit Oktober 2023 geht. Am Samstag, dem 7. Oktober 2023, wurde Israel von der islamistischen Terrororganisation Hamas angegriffen. Eine klare Antwort gibt Herr Naor nicht, man merkt deutlich, dass er darüber nicht reden möchte. Man kann sich jedoch vorstellen, dass es für ihn eine große Herausforderung ist, damit zu leben und umzugehen. Wahrscheinlich erinnert es ihn so sehr an seine eigenen Erlebnisse, zumal er zum Teil in Israel lebt und somit nicht weit vom Kriegsgeschehen entfernt ist.
„Ich werde religiös, wenn es nur noch einen Gott gibt“
Die Frage, ob er gläubig sei, beantwortet Naor mit einem klaren Nein. „Wo war ein Gott, als ich ihn gebraucht habe?“ Er berichtet davon, wie er damals oft in den Himmel sah und nach einem Gott gesucht habe, ihn aber nicht fand. „Vielleicht war er auch gerade auf Mallorca Urlaub machen, als ich ihn gebraucht habe“, scherzt er. Für Naor ist Religion lediglich ein riesiges Geschäft. Er will sich nicht von einem Gott vorschreiben lassen, wie er sich zu verhalten hat.
„Warum führen wir Kriege in Gottes Namen?“, fragt sich Naor. Die Religion wird einem als Kind in die Wiege gelegt, man soll an den Gott glauben, an den schon die eigenen Eltern und Großeltern geglaubt haben.
„Alle, die zuhören, können Zeitzeugen werden“
Für Abba Naor war es ein langer Prozess, bis er seine Geschichte erzählen wollte, jahrelang konnte er dies nicht. „Wir lebten mit der Vergangenheit, Tag für Tag und Nacht für Nacht“. Auf die Frage, warum er bis heute so viele Vorträge über seine Verfolgungsgeschichte und das Leid hält, erwidert er: „Das alles darf nie vergessen werden und wenn wir dazu beitragen, dass es niemals vergessen wird, ist das gut.“ Aufgegeben hat er nie, denn: „Das Leben ist eine feine Sache“.
Bis heute setzt sich der Zeitzeuge stark dafür ein, dass seine Geschichte und die vieler anderer nicht vergessen wird.
Er engagierte sich dafür, dass Mahnmale entlang der Strecke des Todesmarsches aufgestellt werden. Er ist Vizepräsident des internationalen Dachau-Komitees, hat eine Biografie veröffentlicht und initiierte den Austausch zwischen israelischen und deutschen Schüler*innen. Bis heute spricht er an verschiedenen Schulen, Universitäten und Veranstaltungen über sein Leben, im letzten Jahr waren es insgesamt über 100 Vorträge.
Im Jahr 2014 hat Abba Naor seine Biographie in Buchform veröffentlicht, hier findest du sie.
Fotos: © NS-Dokumentationszentrum München, Foto: Viktor Holz
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