Kim Foto: Kim Marvin Scheurenbrand
Aktuell, Fashion-Ding, Kultur, Leben

Die safrangelbe Maske

Kim Marvin Scheurenbrand
Letzte Artikel von Kim Marvin Scheurenbrand (Alle anzeigen)

Mohamad Alhamod flüchtet 2015 über die Balkanroute nach Deutschland und eröffnet eine kleine Modeschneiderei in München. Während der Pandemie schneidert er Masken.

„Ich gebe niemals auf“

sagt Mohamad und schaut mit Trotz in den Augen auf. Das Rattern der Maschine stoppt für einen Moment. Jetzt sieht er zugleich schmerzerfüllt und hoffnungsvoll aus. Als er wieder zur Naht ansetzt, beginnt das leise rhythmische Summen der Nähmaschine erneut. Weißer Faden fließt aus seinen Händen in den Stoff vor ihm. Mehr und mehr versinkt der 40-jährige Syrer in der Meditation seiner Arbeit. Das Fußpedal und seine Finger einigen sich auf einen Takt, bis schließlich eine perfekte Sequenz entsteht. Immer wieder wiegt Mohamad sich vor und zurück, prüft sein Werk und beginnt von neuem den Tanz zwischen Schneider und Stoff. „Niemals“, wiederholt er und wendet die Corona-Maske.

Mohamad Alhamod stolpert seit Jahren von einer Katastrophe in die nächste. Vor dem Terror des Diktators Assad ist er 2015 aus Syrien nach München geflohen. Hier eröffnete er eine Modeschneiderei; doch dann kam das Coronavirus. Jetzt schneidert er eben Masken. Aufgeben will er nicht.

Das Atelier von Mohamad Alhamod ist weiß gestrichen und die hohen Decken erwecken den Eindruck einer Pariser Boutique. „Eliev“ heißt das Modegeschäft, inspiriert vom englischen „believe“, was im Deutschen Glauben bedeutet. Es riecht nach Rituals-Duftspender und geschnittenem Stoff. Von goldenen Gerüsten hängt die aktuelle Kollektion an Seilen herab, scheinbar in der Luft schwebend. Jede Farbe hat seine eigene modische Widmung.

Jede Maske ist ein Unikat

Ein purpurroter Mantel sticht hervor. Er ist ein Einzelstück, wie jede Kreation, erklärt Mohamad. Die goldenen Kleiderständer sehen nach Auftragsarbeit aus, doch er hat sie selbst angefertigt, mit Materialien aus dem Baumarkt: Stählerne Wasserrohre und Muttern. Ein offener Durchlass verbindet die Schneiderei mit dem Ausstellungsraum, jeder kann ihm bei der Arbeit zusehen. Mohamad selbst trägt einen billigen Pullover, Jeans und schwarze Schuhe. „Ich bin hier für die Arbeit“, sagt er. Die Haare sind ergraut, der Bart ist kurz geschoren. Er lächelt, wenn er spricht.

Die Türglocke klingelt. Es ist 13 Uhr, der Laden ist seit zwei Stunden offen. Mohamad setzt seine gelbe Maske auf und eilt zur Tür. Ein junger Mann steht im leichten Regen vor dem Schaufenster und gestikuliert mit seinem Mobiltelefon. Mohamad scheint Bescheid zu wissen und zieht hinter seinem Verkaufspult einen weißen Umschlag hervor. Wie in einem Spionagefilm reicht er den Umschlag durch den Türspalt. Es sind kontaktlos bestellte Masken. In nicht einmal zehn Sekunden ist der Verkauf beendet.

Aus einem kleinen syrischen Dorf nach München

Mohamad Alhamod wurde in einem kleinen syrischen Dorf am Assadsee, in der Nähe von Raqqa geboren – der einstigen inoffiziellen Hauptstadt des IS. Er floh 2015, wie viele Menschen in Syrien, aus seinem Heimatland, in eine ungewisse Zukunft. Balkanroute, tagelang kein Essen und Verfolgungsjagden mit griechischen Grenzpolizisten. Nur ein Weg aus der Unfreiheit. „Man hat dann keinen Hunger“, erzählt er über seine Strapazen. Als in Daraa, dem Ursprungsort der syrischen Revolution, Eltern um die Freilassung ihrer misshandelten Kinder kämpfen, schneidert Mohamad im wenige Kilometer entfernten Damaskus erfolgreich Herrenmode. Er hat sich ein Leben in der syrischen Hauptstadt aufgebaut: Mehrere Wohnungen, eine glückliche Familie und ein eigenes Atelier. Es ist sein Traumberuf: Die Leidenschaft für die Schneiderei erbt er von seiner Mutter, ausgebildet wurde er von namhaften Modeschöpfern in Beirut und Damaskus. Und natürlich von seiner Mutter.

Ein weit verbreitet Sprichwort unter Kennern von diktatorischen Regimen ist „Die Wände haben Ohren“. Mohamad ist einer dieser Kenner. Wirklich frei hat er sich in Syrien nie gefühlt. Schnell eskaliert die Situation in Damaskus, aus niedergeschlagenen, werden niedergeschossene Demonstranten. Dann Sperrzonen, Militär-Checkpoints und ein wütender Wahnsinniger in der Hauptstadt – mittendrin Mohamad und seine Familie. „Sie schossen auf unser Auto.“, sagt er ohne die Miene zu verziehen. Eines Abends findet er sich in einem unterirdischen Gefängnis der syrischen Geheimpolizei wieder. Er trinkt aus der Toilette, um nicht zu verdursten. Mohamad Alhamod redet nur ungern über seine Vergangenheit. Er lächelt.

In feiner Handarbeit

Die blauen Skizzen und Zeichnungen an der Wand des Ateliers sind elegant, wirken französisch. Mit feinen und präzisen Handgriffen spannt er eine neue Farbe in die Nähmaschine ein. Heute schneidert er Masken. Zwei vorgeschnittene Stapel mit blauen und grauen Masken liegen auf der Fensterbank des Ateliers. Jeder Vorschnitt besteht aus zwei Lagen Stoff: Viskose und Vlies. Geschickt dreht und wendet er den Stoff, jede Bewegung fließt ineinander über. Die vorgeschnittenen Formen der Vorderseite näht er an einem Faden zusammen, fädelt ein versteifendes Metallband ein und befestigt schließlich die Gummibänder. Jetzt hängen alle zehn Masken wie an einer Lichterkette aneinander. Er dreht die Masken, legt die Rückseite auf und beginnt beide Seiten zusammen zu nähen. Wieder surrt die Maschine, das Pedal wippt auf und ab. Mit einem letzten Scherenschnitt trennt Mohamad die einzelnen Masken von ihrer Nabelschnur. Langsam füllt sich das Atelier mit Wasserdampf, während der Schneider die Masken bügelt.

Seit Beginn der Pandemie ging alles sehr schnell: Die Maskenform hat Mohamad innerhalb weniger Tage mit Papiermodellen entworfen, in nur vier Tagen war der Onlineshop fertig. Eine einzige Maske näht er aus vier Lagen Stoff zusammen, solange er sich das Material noch leisten kann. Die Farben der Masken sind schillernd, wie jeder Entwurf von Mohamad Alhamod: Kupfer; Blau; Pistazie; Silber; Fuchsia; Grau und Curry. Die meisten Münchner ließen sich die Maske zusenden. Auch ein Mitglied des bayrischen Landtages war unter ihnen. Er kaufte gleich zehn Stück.

Die Preise: Verhandelbar

Die Türglocke klingelt erneut. Ein etwa 60 Jahre alter Mann steht vor der Glasscheibe des Ateliers. Mohamad springt von seiner Nähmaschine auf und öffnet die Tür. Der Mann trägt lederne Motorradkleidung, einen goldenen Ohrring und wilde Locken. Die Arbeitsuniform eines Reisenden. Er habe die Masken im Schaufenster gesehen und würde gerne eine erwerben. Mohamad bittet ihn in seinen Laden. „Wieviel kostet denn eine?“, fragt der Mann in Eile. Als Mohamad ihm den Preis nennt, dreht sich der Kunde weg und heult auf: „Zu teuer! Wie wär’s mit der Hälfte?“. Mohamad reagiert freundlich, wie es nur besonders gastfreundliche Kulturen vermögen: „Sie können zahlen, was Sie wollen.“, antwortet er. Einen Moment lang tauschen beide Blicke aus. Sind 24,99 € zu viel für seine Handwerkskunst? Schließlich probiert der Kunde eine der Masken an. Sie gefällt ihm, doch sie ist zu klein. Wieder wendet der Herr sich zum Gehen. Zwar sei die richtige Größe gerade nicht vorrätig, er könne sie aber sofort schneidern, sagt Mohamad. Kurz zögert der Kunde noch einmal und willigt dann doch ein. Während sich der Schneider an seine Nähmaschine setzt, erzählt der alte Mann von Alaska. Es ist mittlerweile 15 Uhr und der preisbewusste Herr ist erst der zweite Kunde heute. Wieder gleitet das Bügeleisen über den Stoff und füllt den Raum mit Wasserdampf. In wenigen Minuten ist die Maske fertig, lächelnd übergibt sie Mohamad dem Reisenden. Die Maske ist makellos genäht und fast zu schade um getragen zu werden. Der Herr gibt ihm 15 €.

Dies waren alle Verkäufe des Tages. Es ist 19 Uhr und Ladenschluss. Der Schneider ordnet die neu hergestellten Masken in die Auslage ein. Im Schaufenster ist in roter Schrift „30 Prozent“ zu lesen, gemalt auf das aufgedruckte „Eliev“ – Logo einer Einkaufstasche.

Die Pandemie kann ihm nichts anhaben, er hat Syrien überlebt, sagt Mohamad. Seine Familie hat er mittlerweile nach München geholt. Kleine weiße Fäden haben sich während der Arbeit auf seinem Pullover gesammelt, doch er bemerkt sie nicht. Liebevoll streicht er über die frisch gebügelte, safrangelbe Maske. Er ist keine Fluchtgeschichte, er ist nicht Assad-Opfer: Er ist Mohamad Alhamod, der Schneider. Und Aufgeben passt so gar nicht in seinen Plan.


Beitragsbild und Fotos: K.M. Scheurenbrand

No Comments

Post A Comment

Simple Share Buttons
Simple Share Buttons