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Seit 20 Jahren arbeitet Kristina Gottlöber für den Safe Space auf der Wiesn. Auch wenn sich viel getan habe, bleibe die Wiesn ein Risikoort für sexualisierte Gewalt, sagt sie. Mit dem Safe Space unterstützt Gottlöber jedes Jahr Hunderte. Im Interview haben wir nachgefragt: Für wen und welche Fälle steht das Angebot offen? Und was können Wiesn-Besucher*innen – besonders auch Männer – tun, um das Volksfest sicherer für Frauen* und Mädchen* zu machen?
MUCBOOK: Frau Gottlöber, wie sicher ist die Wiesn für Frauen* und Mädchen*?
Kristina Gottlöber: Vorweg: Ich mag die Wiesn gerne. Aber man muss feststellen: Die Wiesn ist kein sicherer Ort für Mädchen* und Frauen*. Es gibt viele gute Sicherheitsmaßnahmen, aber es gibt einfach Menschen, die trotzdem Lücken in diesem System finden, und die Übergriffe begehen wollen.
Von welchen Maßnahmen sprechen Sie?
Das Gelände ist etwa zu weiten Teilen kameraüberwacht. Das hilft in der Aufklärung und bedeutet für Frauen oft, dass sie sich eher trauen, Täter anzuzeigen. Wir hatten in den letzten Jahren Fälle, wo Frauen zum Beispiel massive Grabschereien angezeigt haben und die Polizei über die Kameraüberwachung die Täter quasi live erwischt hat. Die saßen dann noch irgendwo rum und die Frau konnte sie identifizieren. Das erleichtert den Schritt zur Anzeige. Von Videoüberwachung kann man halten, was man will, aber in unserem Kontext ist das ein großer Mehrwert für Frauen und Mädchen.
Dennoch bleibt die Wiesn ein Ort, an dem sexualisierte Gewalt passiert.
Ja, es passieren nach wie vor sehr viele Übergriffe – auch Vergewaltigungen – auf dem Festgelände. Es gibt immer Orte, wo es nicht sichtbar ist und es gibt immer Situationen, in denen nicht klar ist, ob Kontakt freiwillig passiert oder nicht. Gerade wenn jemand zum Beispiel stark angetrunken ist oder K.O.-Tropfen ins Glas bekommen hat, ist das teils schwer einzuschätzen.
Wie viele Betroffene kommen während der Wiesn zu Ihnen?
2022 kamen 450 Hilfesuchende auf uns zu und 2023 320 Personen. Seit es den „Safe Space“ gibt, nahmen insgesamt 3388 Frauen* und Mädchen das Angebot in Anspruch.
Und wie viele, schätzen Sie, erreichen Sie nicht?
Wie groß das Dunkelfeld ist, das ist wahnsinnig schwer zu schätzen. Die Dunkelfeld-Studien, die es gibt, gehen alle davon aus, dass es deutlich mehr Übergriffe gibt, als die, die angezeigt werden. Davon gehen wir auch aus. Auf der Wiesn kommen außerdem noch Aspekte hinzu, die dieses Dunkelfeld beeinflussen. Zum Beispiel, dass Übergriffe häufig Personen nicht deutscher Herkunft betreffen, die auch nicht hier wohnen. Wir wissen von vielen Frauen, die nach einem schweren Übergriff oder einer Vergewaltigung erst mal nur nach Hause wollen und nicht darüber sprechen wollen, oder gar in einem fremden Land die Hürden von Anzeige und Prozess zu nehmen.

Die Aktion “Sichere Wiesn für Mädchen* und Frauen*” will die Sicherheit für Mädchen* und Frauen* auf der Wiesn erhöhen und Betroffenen Hilfe bieten. Sie wurde 2003 von den drei Münchner Einrichtungen AMYNA e.V., IMMA e.V. und der Beratungsstelle Frauennotruf 2003 ins Leben gerufen. AMYNA macht Bildungsarbeit zur Prävention von sexualisierter Gewalt für Erwachsene, Jugendliche und Kinder. IMMA betreibt u.a. eine Schutz- und eine Beratungsstelle für Mädchen* und junge Frauen*. Und die Beratungsstelle Frauennotruf unterstützt Frauen*, die sexuelle Gewalt erfahren haben u.a. durch Beratung, Therapie und ein Krisentelefon. Von Beginn an unterstützt die Stiftung “Hänsel + Gretel” die Aktion finanziell. Seit 2008 fördert die Stadt München das Projekt und seit 2015 der Landkreis.
Was macht die Wiesn zu einem gefährlichen Ort für Mädchen* und Frauen*?
Die beiden entscheidenden Risikofaktoren, denke ich, sind der Alkohol und die schiere Menge an Menschen. Ich glaube die Wiesn hat auch einen bestimmten Nimbus: Man kommt hierher, um Party zu machen und um zu trinken, um vielleicht auch mal über die Stränge zu schlagen. Manche denken, was auf der Wiesn passiert, bleibt auf der Wiesn.
Viele kommen auch gerade zum Flirten.
Ja, genau. Das ist ja auch schön. Die Wiesn ist ein Anbandlungsort. Ich kenne Paare, die sich auf der Wiesn kennengelernt haben. Es gibt Wiesn-Hochzeiten. Das zeichnet die Wiesn aus. Man sitzt mit irgendwem am Tisch und quatscht einfach. Oft ist das total lustig. Das, was Mädchen und Frauen dann passieren kann, ist die Schattenseite. Es wird oft nicht sichtbar aber es ist ebenso da. Viele sehen das Oktoberfest immer noch als moralfreie Zone. Letztendlich betrifft das viele große Festivals. Nicht umsonst gibt es immer mehr Awareness Teams oder eben Safe Spaces.
Wie finden Frauen* und Mädchen* in einer Notlage den Safe Space auf der Wiesn?
Der Safe Space ist im Servicezentrum, das ist das einzige richtige Gebäude auf der Theresienwiese, rückseitig vom Schottenhamelzelt. Es gibt drei Eingänge, der mittlere ist der Erste-Hilfe-Eingang, da stehen zu Öffnungszeiten immer Kolleginnen von uns vor der Tür. Die genaue Location des Raums veröffentlichen wir nicht, weil wir auch mit gewalttätigen Partnern zu tun hatten und das ein Schutzraum sein muss. Wer in einer Notlage ist, kann sich auch immer an die Polizei, Ambulanz oder an Ständebetreiber*innen und Security-Personal wenden, die dann an uns vermitteln.

Für wen ist das Angebot gedacht? In Ihren Flyern und auf der Webseite schreiben Sie Frauen* und Mädchen* mit Stern. Bedeutet das, dass auch non-binäre, inter- und trans-Personen den Safe Space nutzen können?
Genau. Alle Personen, die in irgendeiner Form von sexualisierter Gewalt durch Männer betroffen sein können, können zu uns kommen, also natürlich auch non-binäre, inter- und trans-Personen. In Einzelfällen haben wir auch schon bei betroffenen cis-Männern unterstützt, aber das ist nicht unsere Zielgruppe. Wir müssen ja auch den Safe Space aufrecht erhalten, da dürfen keine cis-Männer rein.
Mit dem Stern wollen wir deutlich machen, dass wir offen sein wollen. Man kann nie ausschließen, dass man jemanden diskriminiert aber wir sensibilisieren unsere Kolleg*innen intensiv und haben in den letzten Jahren auch schon mit Personen gearbeitet, die nicht cis-weiblich waren und die hoffentlich auch gute Erfahrungen bei uns gemacht haben.
Ist der Safe Space nur für Betroffene sexualisierter Gewalt?
Wir machen alles. Frauen zum Beispiel, die sich verlaufen, weil sie vielleicht Touristinnen sind oder sich nicht auskennen und stark betrunken sind, helfen wir auch. Wer mal feiern war, der weiß, wie schnell sich solche Situationen bedrohlich anfühlen können. Wir haben immer wieder Fälle von Frauen, die irgendwann bei uns landen, nachdem sie zwei, drei Stunden vergeblich ihre Gruppe gesucht haben. Das ist eine total vulnerable Gruppe, die sich nicht mehr gut selber schützen kann. Der “Klassiker” ist die amerikanische Touristin, die nicht mehr weiß, wo ihr Hotel ist, weil irgendwer aus der Gruppe hat das gebucht. Dann verliert sie das Handy, weiß nicht weiter und legt sich irgendwo auf dem Gelände zum Schlafen hin. Und das ist auf der Wiesn wirklich gefährlich. Deswegen kümmern wir uns wirklich um alles. Wir hatten schon demente Frauen, wir hatten Frauen mit körperlichen oder seelischen Einschränkungen, alte Frauen, junge Frauen, Frauen mit allen Anliegen. Wir versuchen in jeder Situation, Hilfe zu leisten.
Wenn eine Person auf Sie zukommt und von einem Übergriff erzählt, wie geht es dann weiter?
Die Frau entscheidet, was passiert. Wir beraten kostenlos und auf Wunsch anonym. Oft gilt es erstmal, den Schutz für die Nacht zu gewährleisten. Wenn wir rausfinden können, wo das Hotel ist, begleiten wir zum Beispiel auch ins Hotel. Wenn jemand so stark betrunken ist, dass wir nicht mehr beraten können, muss man allerdings erstmal in der Ambulanz ausnüchtern, weil das einfach medizinisch geboten ist. Im Fall von Gewalt oder sexualisierter Gewalt steht für uns dann an erster Stelle, dass die betroffene Person Kontrolle zurückgewinnt. Das heißt, wir beraten auch zum Thema Anzeige. Für uns ist wichtig, dass die Betroffene eine informierte Entscheidung treffen kann. Aber die Entscheidung, ob Anzeige oder nicht, trifft immer die Person selbst. Auf der Wiesn haben wir in vielen Fällen sehr gute Erfahrungen beim Thema Anzeige gemacht und arbeiten super mit der Polizei zusammen..
Durch den Terrorangriff in Solingen und den mutmaßlichen Anschlag auf das NS-Dokumentationszentrum und das israelische Konsulat könnte die Polizeipräsenz auf der Wiesn noch mal erhöht werden. Ist das dann für Sie etwas Gutes?
Die Polizeipräsenz auf der Wiesn ist ja ohnehin hoch. Für manche mag das beruhigend auf andere aber auch bedrohlich wirken. Was Mädchen und Frauen angeht, ist es wichtig, dass die Polizei da ist, genau guckt und achtsam ist. Gleichzeitig glaube ich aber, ist das nicht das, was uns langfristig vor Übergriffen schützt. Wir brauchen eine langfristige gesellschaftliche Veränderung – die in vielen Teilen schon passiert. Aber Frauen immer noch hören ‘Zieh das nicht an, flirte nicht so doll.’ Und es für Männer immer noch okay ist, zu sagen: ‘Naja, der hat es nicht so gemeint.’ Oder: ‘Stell dich nicht so an.’ Solange hilft uns aus meiner Sicht langfristig auch nicht, dass mehr Polizeistreifen unterwegs sind.
Was würde helfen?
Was wir uns schon lange wünschen, wäre eine Zero-Tolerance-Haltung von allen auf dem gesamten Oktoberfest. Da hat sich in den letzten Jahren schon viel getan. Auch in den Zelten zum Beispiel, dass klar ist, wer grabscht, fliegt raus. Aber das ist eben noch nicht ganz bei allen angekommen.
Es braucht also Bildung?
Ja, daran arbeiten wir unterjährig auch kontinuierlich. Es braucht einfach gesellschaftlichen Konsens darüber, dass sexualisierte Gewalt tabu ist und man aufeinander achtet. Dass Victim-Blaming muss aufhören, dass Betroffene für Übergriffe verantwortlich gemacht werden, weil sie vermeintlich zu viel getrunken hätten oder zu freizügig gekleidet gewesen seien. Und wir müssen weiter darauf hinwirken, dass Mädchen* und Frauen* sich Hilfe holen, Übergriffe anzeigen und eben nicht das Gefühl haben, sie tragen eine Mitverantwortung.

Wie sollten Männer sich verhalten, um zu einer sicherere Wiesn für Mädchen* und Frauen* beizutragen?
Es ist wichtig, zu wissen, wo die eigene Grenze beim Alkoholkonsum liegt. Wer das Gefühl hat, sich nicht mehr gut im Griff zu haben, sollte mit dem Trinken aufhören. Und wenn sich das Gegenüber sich beim Anbandeln nicht eindeutig zugewandt zeigt und man ist sich nicht sicher, ob das eine Flirtstrategie ist, was ja oft gesagt wird. Dann sollte man einfach mal fragen. Man kann ja auch Konsens einfach abfragen. Das finde ich grundsätzlich wichtig.
Und wenn man übergriffiges Verhalten von anderen mitbekommt?
Wir alle, aber eben auch Männer untereinander, sollten Männern die Solidarität entziehen, die sich übergriffig verhalten. Männer müssen aufmerksam sein und dürfen so etwas nicht weglachen. Gerade bei vermeintlich „kleineren“ Übergriffen, wie hinterherpfeifen, unter den Rock gucken oder ungewollt küssen: Da befeuern sich Männer zu oft noch untereinander. Wir würden uns wünschen, dass man auch dem besten Kumpel mal sagt: ‘Hey, das ist nicht in Ordnung.’ Einfach mal klare Kante zeigen!
Einerseits gab es in den letzten Jahren die Entwicklung rund um #metoo und Konsens, gleichzeitig formiert sich gerade in den letzten Jahren auch ein starker Backlash gegen vieles, was mit Feminismus und Gender zu tun hat. Erleben Sie das auch in Ihrer Arbeit?
Auf der Wiesn nicht ganz so stark, eher im normalen Berufsalltag in unseren Einrichtungen. Da ist es öfter präsent. Es gibt viele junge Menschen, die zurückfallen in tradierte Rollenmuster. Diese Rollenbilder sind leider auf der Wiesn auch noch recht ausgeprägt.
Haben Sie denn Sorge, dass durch diesen Backlash die Unterstützung für den Safe Space auch wieder einbrechen könnte?
Das könnte passieren. Wir arbeiten ja an ganz vielen Stellen sehr politisch und sehr feministisch. Wir setzen uns für Ziele ein, die rechte Parteien und Politiker*innen größtenteils ablehnen. Wenn wir große Veränderungen im Rathaus hätten, dann würde das für uns und für ganz viele Einrichtungen aus dem feministischen oder aus dem queeren Kontext große Probleme bedeuten. Das muss man klar sagen. Aber man merkt wirklich auch, es hat sich gesellschaftlich wahnsinnig viel getan. Als wir vor 21 Jahren angetreten sind mit dem Safe Space, wurden wir abgelehnt – und zwar von gefühlt allen.
Wie sah die Ablehnung aus?
Es hieß, wir seien überflüssig und machen das Image kaputt. Es gab so eine Stimmung von: ‘Was wollen die denn jetzt hier’?
Und wie sieht es heute aus?
Das hat sich total verändert. Uns wird mit Wertschätzung begegnet. Mit vielen Wirt*innen, Politiker*innen aber auch Einzelpersonen aus ganz anderen Bereichen, wo wir damals dachten, die finden uns nie gut, hat sich über die Jahre eine gute Beziehung etabliert. Klar, wir sprechen Sachen öffentlich an, die nicht immer das beste Licht auf das Oktoberfest werfen. Aber gleichzeitig ist es für eine Stadt wie München toll, so ein Modellprojekt, vor Ort zu haben, das in verschiedenen Städten kopiert wurde. Letztendlich wollen wir ja alle das Gleiche. Wir wollen alle, dass man auf der Wiesn friedlich feiern kann. Von unseren Mitarbeiterinnen geht ein großer Teil sehr gerne selbst auf die Wiesn. Wir möchten, dass Mädchen* und Frauen* ein tolles Wiesnerlebnis haben, gerade weil uns dieses Fest am Herzen liegt.

Kristina Gottlöber, 42 Jahre, arbeitet als Sozialpädagogin bei IMMA e.V. und war seit 2004 bei der Aktion „Sichere Wiesn für Mädchen* und Frauen* als Ehrenamtliche tätig. Seit 2013 arbeitet sie im Organisationsteam und als Fachberaterin am Safe Space.
Beitragsbild: Das Organisationsteam des Safe Space auf der Wiesn 2023 v.r.n.l.: Kristina Gottlöber (IMMA e.V.), Manuela Soller (AMYNA e.V.), Lisa Löffler (Beratungsstelle Frauen*notruf München) // Sichere Wiesn für Mädchen* und Frauen*