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He’s back!

Tini Kigle
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Pervers, grausam, zutiefst ethisch: Ein Gedankenspiel über die Rolle des Sängers im zeitgenössischen Theater.


He’s back! Im antiken Theater kommentierte er im Chor das Geschehen auf der Bühne und prophezeite dem Publikum den Handlungsverlauf. Später dann, bei Brecht, war er als Erzähler zuständig für die Desillusionierung und Distanzierung des Publikums vom Spiel. Während Aristoteles seine ZuschauerInnen im besten aller Fälle jammernd und schaudernd zurückließ, intendierte Bertolt Brecht den kritischen Geist seiner ZuschauerInnen wachzuküssen und dem Publikum die Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse hin zu mehr Marxismus zu suggerieren. Der Sänger sollte es richten. Nun, er ist zurück: der Sänger auf der Bühne, die Live-Musik im Theater! An den Münchner Kammerspielen arbeitete Regisseur Roger Vontobel mit ihm bei den Produktionen lass mich dein Leben leben. Dirty Control 2 (2009) und Lilja 4-ever (2009), Regisseurin Barbara Weber holte ihn in Kebab (2007) und Bonnie und Clyde (2010) auf die Bühne. Bei allen vier Produktionen war es Musiker, Performer, Künstler Murena, der die Figur des Sängers mimte. Die Theaterbühne als Spielwiese für einen Musiker, Möglichkeiten und Grenzen von Live-Musik im Theater und die Rolle des Sängers heute darin: Ein Nachdenken mit Murena.

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Als Figur auf der Bühne ist der Musiker kein Teil des Publikums und als Außenseiter auf der Bühne kein Teil des Schauspielersets. Er ist weder-noch, trotzdem präsent. In seiner Anwesenheit schwer zu deuten, in seiner Abwesenheit in der Geschichte merkwürdig stumm. Als bizarre Figur, die im luftleeren Raum zu schweben scheint, ist er der Motor, der die Grenze zwischen Schauspieler und Zuschauer zerbricht oder überschreitet. Der Sänger sprengt die beiden Pole, enthierarchisiert, irritiert und organisiert Kräfte und Energien neu. Er ist die dritte Dimension, an der die Fragen nach Realität, Wirklichkeit und Spiel neu andocken müssen: Ist er Stellvertreter des Zuschauers auf der Bühne und fungiert so als Bindeglied und Brücke zwischen Bühne und Zuschauerraum? Ist er Zeuge des Geschehens, legitimiert mit seinem Zeugnis das Spiel und die Geschichte auf der Bühne?

Ist er der subversive oder der affirmative Sänger? Er, der mit seiner Anwesenheit und seiner Musik die Atmosphäre und Stimmung bereitet, die den Raum als Nährboden für die Geschichte erst schafft. Ist er Beobachter? Voyeur? „Als Unbeteiligter einer grausamen Handlung zusehen. Und dann den Finger in die Wunde legen. Es ist pervers. In der Kunst geht das“, sagt Murena.

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Der Sänger ist der Meister, der nimmt und nichts gibt, der sich krallt, was der Gegenwart nicht mehr gehört, was zu verlieren bestimmt ist. Er ist der Täter, der richtet, urplötzlich und präzise zuschnappt und es danach nicht gewesen sein will, der lügt und dem man doch glaubt. „You get what you deserve“ haucht Murena mit hoher verzerrter Stimme bei Bonnie und Clyde immer wieder ins Mikrofon – zündelnd, mit dem Feuer spielend, irgendwo zwischen Schadenfreude und Lüsternheit.

Ist er etwa der Mephisto, der alles, was entsteht, für wert befindet, dass es zugrunde geht? „Freiheit heißt, keine Rücksicht nehmen zu müssen“, so Murena. Oder ist er doch einer von ihnen, ein Outcast wie Bonnie und Clyde, „zwei Punks“, wie Murena sie nennt; nirgendwo zu Hause, ortlos; ungreifbar, weil ohne Geschichte, abstrakt, weil ohne Identität. „It’s better to burn out than to fade away“, zitiert Murena. Oder steht der Sänger da doch als Spiegel auf der Bühne? Als eine Mischung aus Big Brother, le Grand Observateur, als Schatten? Als das ewig Andere, das Potential, der Möglichkeitsraum in Abgrenzung dazu die Geschichte auf der Bühne spielt? Steht er für die Nicht-Geschichte und dafür, dass der Zufall alles auch hätte ganz anders mischen können – also für des Gedankens Blässe oder der Geschichte Kontingenz? Als das gefährlich Unbekannte, das den Boden unter den Brettern erzittern lässt. Das Fremde in uns, der Abgrund, der Rest an Zweifel, der immer bleibt? „You get, what you deserve.“

Der Musiker umkreist das zentrumslose Geschehen, ist der Weißabgleich und weiß so sicher, dass nichts sicher ist. Er ist es, der den narrativen Kern des Mythos von Bonnie und Clyde sprengt, die Linearität von innen heraus zerstört, der Kausalität Ursache und Wirkung raubt und der Kohärenz den Zusammenhang zerpflückt. Vielleicht ist der Sänger der Befreier und Retter von den Lasten, die unsere
Sehnsucht nach Sinn uns auferlegt. „Bonnie und Clyde machen das Beste aus ihrer Situation“, lacht Murena. Live fast and die young? Womöglich ist auch das die Position des Sängers, des Musikers auf der Theaterbühne heute, die es erlaubt, so etwas zu formulieren. Eine Position, in der es keinen Luxus darstellt, vom Leben mehr zu fordern als das eigene ‚nackte’ (Über-)Leben. Vielleicht ist dies die radikale Utopie, in der bereits die Einforderung bestimmter Bedingungen des Menschseins ihre Preisgabe ist, weil es ihre Selbstverständlichkeit in Frage stellt. Vielleicht ist die Funktion des Musikers im
Theater heute auch eine zutiefst ethische.

Mehr zu Murena unter: www.murena.at/

Bild 1: Roderick Aichinger
Bild 2: Patrick Chaudhri

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