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„Als Kind wollte ich Erfinder werden“ – Kreativtechnologe und Designer Moritz Pongratz im Portrait

Als Kind wollte Moritz Pongratz Erfinder werden. Heute ist er Kreativtechnologe und Kommunikationsdesigner. Bei einem Besuch in seinem Arbeitsatelier lerne ich einen der vielen spannenden Kreativen aus München kennen, die sonst gerne einmal hinter ihren Projekten verschwinden. Portrait über einen Immer-Neugierigen.

Lötkolben, 3D-Drucker, Uhu-Klebestift, elektronische Geräte und Platinen, deren Funktion man nur erahnen kann: Wer Moritz „Büro“ im Mucbook Clubhaus KICKOFF betritt, der blickt erst mal neugierig um sich. Die unaufgeräumte Werkbank vermittelt einen Hauch schöpferisches Chaos. Daneben popkulturelle Artefakte wie eine Discokugel an der Decke, ein Wu Tang-Emblem am Fenster, eine alte Kinobank an der Wand und Sticker auf dem Tisch.

Moritz ist gerade am Ausziehen hier, bevor es für ihn ein halbes Jahr auf einen Zwischenstopp nach Valencia geht – für einen Forschungsauftrag in der Automotive und Tech Branche, wo er „viel mit KI“ machen wird.

Ein elektronischer Bananenschäler…

Moritz bietet mir einen Tee an. Mit Zucker – man kommt ja doch schwer davon weg. Umgerührt wird der mit einer Gabel. Die Löffel sind wohl schon weggepackt.

Vielleicht erst mal zum Witzigsten, was ich von Moritz bisher kenne: Eine Website, die auf Knopfdruck fiktive Produkte des Industriedesigners Dieter Rams generiert. Rams ist eine Design-Ikone des 20. Jahrhunderts und hat für Firmen wie Braun und Vitsoe viele zeitlose Produktdesigns geschaffen (und das Prinzip „form follows function“ mitgeprägt). So wie ChatGPT auf Wunsch Informationen ausspuckt, so generiert Moritz‘ Web-App „not designed by Dieter Rams je nach Wunsch des Nutzers Produkte im Stil der Designlegende.

Ein elektronischer Bananenschäler, ein solarbetriebenes Katzenklo oder Socken mit eingebautem Taschenrechner: Selbst absurde Vorschläge verarbeitet die Maschine und generiert Produkte, die zweifelsohne Ähnlichkeiten mit der markanten Formgebung von Rams haben.

„Mir hat das so viel Spaß gemacht, aber ich will auch deutlich sagen, dass man Rams nicht imitieren kann. Das war ein Experiment. Das war von vornherein zum Scheitern verurteilt.“

Einen „echten“ Rams könne sein Modell nicht erzeugen, da die KI in ihrer derzeitigen Version nur die Formen von Gegenständen verstehe, nicht aber die Funktionen dahinter. Dass ein angedachter Talk mit dem inzwischen 92-jährigen auf großer Bühne nicht mehr geklappt hat, darüber ist er – als großer Fan – eigentlich ganz froh: „Ich möchte ihn damit gar nicht belästigen und ich hoffe, er kennt es nicht“, sagt er. Etwa die Hälfte seiner Arbeitszeit verbringt Moritz mit solchen Explorationen, die ihm nicht unmittelbar Geld einbringen, schätzt er. 

Moritz vor seiner Werkbank im Mucbook Clubhaus KICKOFF

Los ging es mit einem PC unter der Bettdecke

Eigentlich beginnt Moritz’ „Karriere“ aber schon im Kinderzimmer. Anfang der 90er Jahre bekam er Zugang zum Vorläufer des Internets, dem BTX-Text – eine Art interaktiver Videotext für den privaten Gebrauch. Sein Vater, ein Kaufmann, nutzt die Technik beruflich. Nachts steckt er mit einer Decke über dem Gerät mitsamt Bildschirm und tauscht sich mit Menschen aus der ganzen Welt aus. 

„Das Internet in seinen Anfangszeiten war ein sehr cooler Raum. Jeder hat sich um jeden ein bisschen gekümmert“.

Damals musste man noch die Telefonleitungen blockieren, um online zu gehen. Modems waren verräterisch laut. Nach Feierabend aber waren die Leitungen frei und am schnellsten.

In seiner Schule in Ulm wurden kurz vorher Computer für 80.000 DM angeschafft – das damals „bestausgestattete Computerzimmer in Baden-Württemberg“, verkündet die Schulleitung stolz. Und Moritz hilft die frühe Kontaktaufnahme: In der fünften Klasse lernt er Programmieren in der Programmiersprache Basic. Von da an weiß er ungefähr „wie Computer funktionieren“ und was das Ding so kann. Sonst sei er ein ganz normales Kind gewesen: Skateboarden, Basketball, mit Freunden treffen. 

„Ich hab halt nachts wenig geschlafen“, sagt Moritz über seine analoge Kindheit und digitale Jugend. Mit 13 designt er Geburtstagskarten für die Familie mit Vektorgrafiken („sahen schrecklich aus“), mit 15 ist er Teil eines japanischen Multiplayer-Clans.

Hier im Bild: Nahaufnahme von Moritz’ Werkbank

Der Eistee-Moment

Wenig später macht er ein Schülerpraktikum bei einer Werbeagentur. Photoshop 2 ist damals ganz neu und er darf probeweise ein paar Tropfen auf dem Design einer neuen Lipton Eistee Dose verschieben. Ein kleiner Klick, aber ein großer Aha-Moment: Ein halbes Jahr später kommt die Dose in die Supermärkte und seine Tropfen immer noch dort, wo er sie platziert hat. Ein prägender Moment, der ihn stolz macht: Bis heute hat Moritz ein Exemplar der Dose bei sich zuhause. 

Weiter geht es für ihn in Schülerjobs als Webdesigner und an der Designhochschule Schwäbisch-Gmünd – ein Ableger der renommierten, aber seit 1968 geschlossenen HfG Ulm, die wiederum berühmte Gestalter wie Max Bill und Otl Aicher hervorgebracht hat.

Hier im Bild: Links ein Piktogram von Otl Aicher (Olympia ’72), rechts ein KI-generiertes Bild der KI Stable Diffusion

Kleiner Ort, feiner Hort

Schwäbisch-Gmünd ist ein kleines Nest, ebenso die Uni, aber – Vorteil – die Studierenden bekommen in den letzten Semestern schon ein eigenes Büro und die Lehre ist super. Die kleine Grafik-Bubble im beschaulichen Ort ist damals genau das, was Moritz sucht.

Im Studium als Kommunikationsdesigner lernt er neben den gestalterischen Grundlagen auch konzeptionelles Arbeiten. Braucht der Kunde ein neues Logo, einen Text, eine Webseite oder gleich eine ganz neue Kampagne? „Ich find’s halt schön“ gilt nicht an der Uni. So lernt er, die Wahl seiner gestalterischen Mittel zu reflektieren und zu begründen.

Hier im Bild: Moritz bei einem Vortrag über seine Arbeit

Erster Halt München

Im Praxissemster zieht es ihn nach München zu KMS Team – damals eine mittelgroße Agentur für Strategie- und Design-Beratung. Schon am zweiten Tag lässt er sich die Schlüssel geben, damit er abends auch mal länger bleiben kann. So motiviert ist Moritz. Selbstausbeutung würde man das heute vielleicht nennen, mindestens ebenso sehr ist es aber seine Begeisterung.

„Dieses halbe Jahr Praktikum war für mich eine Offenbarung, ich habe gesehen, wie geil mein Beruf sein kann“, sagt er.

Als er an Kampagnen für Adidas und das World Trade 7 (das Gebäude neben den 2001 eingestürzten Twin Towers) arbeitet, sieht er ein Stück der Welt, die er weiter kennen lernen will. KMS Team ist beim Thema Messedesign vorne mit dabei. Ein Feld das damals sonst eher von Architekt*innen bearbeitet wird. Von da an hat er sich „in Kommunikation im Raum verliebt“. Seine Kund*innen kommen zum Beispiel aus der Automobilbranche, die in München traditionell stark ist.

Jetzt muss man eigentlich noch sehr viel mehr erzählen über diese Zeit. Von der voestalpine Stahlwelt (ein Stahlmuseum), die Moritz mit entwickelt hat. Oder vom Hype um VR-Brillen, die er 2012 als erster für Kund*innen eingesetzt hat. Moritz würde heute aber nicht hier in seiner eigenen Erfinder-Werkstatt sitzen, wenn er nicht irgendwann Adieu gesagt hätte. Nach knapp zehn Jahren wird es Zeit für eine Veränderung. „Irgendwann war die Energie bei mir raus, aber es war eine geile Zeit und ich bereue es gar nicht“, sagt er.

Schachmatt…

2015 kündigt er und geht ein halbes Jahr nach Afrika. Als er zurück ist, gibt es viele Angebote. Er könnte bei einer Agentur als Gründer einsteigen. Erst mal arbeitet er aber als Freelancer für große Design-Agenturen. Meistens als Pitch-Konzepter, der sich irgendwann nach der Konzeption aus den Projekten rauszieht.

Kurz darauf passiert am anderen Ende der Welt etwas, das ihn tief beeindruckt. Bei einem Go-Tunier – sowas wie eine viel komplexere Variante des Schachs, die in Asien sehr populär ist – wird der Südkoreaner Lee Sedol 2016 von der Google-Software AlphaGo besiegt. Entscheidend für den Sieg ist laut Beobachter*innen ein Spielzug des Algorithmus, der mathematisch eigentlich keinen Sinn ergibt und den es so noch nie gegeben hat.

Der menschliche Gegner ist aber so verwirrt, dass an dem Punkt seine Niederlage beginnt. Für viele der Beweis: Hier ist künstliche Intelligenz, künstliche Kreativität am Werk. Ein epochaler Tag in der Geschichte der KI-Entwicklung.

„Da hat es Klick gemacht bei mir. Der Geist in der Maschine ist zum ersten Mal sichtbar geworden.“

Ein Erweckungsmoment. Jetzt steigt auch er tiefer ins Thema ein. Die Entwicklung ist atemberaubend: 2014 kann eine Software auf einen Textbefehl hin ein Pferd auf dem Niveau eines Kleinkindes malen. 2015 erzeugt die Software Deep Dream alptraumhafte, psychedelische Bilder wie auf einem schlechten LSD-Trip. 2021 kommt dann DALL-E auf den Markt. Eine Software, die wirklich hochauflösende Bilder basierend auf Textbefehlen der Benutzer*innen generiert (hier kommt das an der LMU München mit entwickelte Stable Diffusion Modell zum Einsatz). Im selben Jahr lernt die Software Chat GPT mit uns zu sprechen und das Wissen der Welt zu nutzen.

Hier im Video: Aus knapp 100 Schlagwörtern mit Themenideen generiert eine KI neue Cover-Designs für das MUCBOOK Print in einem Infinite Loop; Video von Moritz Pongratz

Die Rams-Inception

„Um Neues zu entwickeln, muss ich wissen, wie Dinge funktionieren. Und damit arbeiten und experimentieren“, sagt Moritz, der sich inzwischen als Kreativtechnologe – oder Englisch: „creative technologist“ – begreift. Momentan ist das noch explorativ und erforschend, aber immer mehr fließt es auch in seine bezahlte Arbeit mit ein. Für ihn ist es ein Bruch mit Routinen. Denn die „machen Sachen unanstrengend, aber auch langweilig“.

Seine Dieter Rams App zum Beispiel hat Moritz einmal über Nacht laufen lassen und so 10.000 Gestaltungsideen als Bilder erstellen lassen. 4,6 Gigabyte Rams sozusagen. Oder vielmehr 4,6 Gigabyte „not designed by Dieter Rams“. Zwei weitere Ideen hat er konkret umgesetzt. Ein fehlender Türknauf in seiner Wohnung wurde mit dem Modell gestaltet und im 3-D-Drucker gefertigt. Außerdem hat er eine Kamera gebaut, die Objekte als Dieter Rams-Produkte erkennt – auf einer Skala von null bis hundert Prozent. Die Rams-Ratio, könnte man sagen. Dazu hat er seine Dieter Rams-App mit dem Prinzip einer Gesichtserkennungssoftware verknüpft.

Man kennt das vielleicht aus Agentenfilmen. Kameras erkennen unter Tausenden Leuten die Zielperson. Auch unsere Stimmungen können computerbasierte Kamerasysteme von unserem Gesicht ablesen. Jetzt also der Möbelcheck. Ganz akkurat ist sein Prototyp noch nicht, aber doch verblüffend nah dran. Originalobjekte von Rams wurden im Test von der Kamera mit 91 Prozent bewertet. Die KI-generierten Rams-Modelle von Moritz App mit 80 Prozent. Der Luigi Colani Chair – ein anderer Design-Klassiker – mit 43 Prozent. Der gute alte deutsche Fließentisch dagegen nur mit 11%. Ein „Fließentisch by Rams“ kommt immerhin wieder auf 78%.

Die Kamera, die Moritz dabei verwendet – soviel Ironie musste sein – ist eine klassische Braun Nizo, die Rams 1963 selbst designte. Conclusio: „Ich habe damit eine Kamera von Dieter Rams, die Dieter Rams Produkte erkennt.“

Dream big!

Als Kind wollte Moritz Universalgelehrter werden, sagt er. Und Erfinder. In einem Comicbuch las er von Leonardo Da Vinci, der sich im 17. Jahrhundert Sachen überlegte, die vorher noch nicht da waren. „Ich fand das phänomenal.“ Nun ist die Zeit der Universalgelehrten längst vorbei, weil es zu viel Wissen auf der Welt gibt. Wenn man so will, sind Künstliche Intelligenzen die Universalgelehrten unserer Tage. Bleibt uns vielleicht noch das Erfinden. „Im Design steckt das Erfinden noch mit drin“, bemerkte Moritz schon früh. Heute ist er seinem Kindheitstraum wohl so nahe wie nie.

Fotos: ©Mucbook (außer Beitragsbild: © Moritz Pongratz/PR)