Kultur, Nach(t)kritik

Krümmpunktfinden auf Goldwasser

Thomas Steierer

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Kürzlich ist das Romandebüt des Münchner Journalisten Max Scharnigg (Süddeutsche Zeitung, Jetzt.de, SZ-Magazin), Jahrgang 1980, erschienen. Die schlaue kafkasesk-surreale Selbstbesinnungs-Parabel „Die Besteigung der Eiger-Nordwand unter einer Treppe.“ Eine Rezension.

Als der Journalist Nikol Nanz nach der Arbeit vor der gemeinsamen Wohnung mit seiner Freundin M. steht, erwartet ihn eine unerfreuliche Überraschung. Fremde Herrenschuhe vor der Tür und eine nach außen dringende fremde Männerstimme. Was sehr auf einen Nebenbuhler hindeutet.

Indigniert verkriecht sich Nikol in die Nische unter dem Treppenansatz im Erdgeschoss. In derartiger „Unsichtbarkeit“ bekommt der Endzwanziger unfreiwillig Gelegenheit zu Innehalten, Reflexion, Insichgehen.

Was keineswegs verkehrt ist. Wie sich zeigt. Hinsichtlich Nikols innerer Unordnung. Nicht nur im Fall des schwer Gestalt annehmenden Zeitungs-Beitrags, an dem er gerade arbeitet. Zur Erstbesteigung der berüchtigten Eiger-Nordwand im Jahr 1938.
Einen klaren Kopf zu bekommen bedarf es auch hinsichtlich der nun mutmaßlich abrupt zu Ende gehenden, seit geraumer Zeit von M.s psychosomatischer Erkrankung überschatteten Beziehung. Sowie in Sachen weiterer offener Baustellen Nikols wie Sinnzweifel am Zeitungsjob, Einzelgängertum, Unscheinbarkeit, Wurzellosigkeit.

Soweit dreht sich „Die Besteigung der Eiger-Nordwand unter einer Treppe” um reale menschliche „Verwerfungen des Alltags“, prosaische Klassiker-Themen. Als Romanschauplatz dient die tatsächlich existierende Jutastraße in München-Neuhausen. Das meiste Weitere in Scharniggs Debütroman hingegen driftet ins Surreale. Phantastische. Kafkaeske. Skurrile.

Dass sich die Wohnungsnachbarn überhaupt nicht kennen, weist in Richtung tatsächlich von Haus zu Haus mehr oder weniger zutreffendem auch an anderer Stelle Artikulierten bezüglich urbaner Anonymität.
Aber: Zeit spielt für Nikol schon bald keine Rolle mehr. Aus der Nacht in der Treppennische werden Tage. Er verliert jegliches Zeitgefühl: „Ist doch Montag, oder? Ich wusste es nicht. Auf den Werbeprospekten, die ich las, stand kein Tagesdatum.“ Und: Nahrungsaufnahme ist nicht mehr notwendig, aus der Metzgerei im Erdgeschoss nebenan herüberwabernde Fleischdüfte genügen zum Sattwerden.
In seinem Versteck bekommt Nikol außerdem allerlei Wunderliches mit: Hundescharen streifen durchs Haus. In einer traurig stimmenden Szene holen sich Obdachlose im Treppenhaus, etwa beim Begutachten der Briefkästen, ihre Portion bürgerliches Wohngefühl. Nikol schreibt in Gedanken an seinem Eiger-Nordwand-Beitrag. Wie in einem Word-Dokument am Computer können der Text oder Passagen imaginär abgespeichert, aufgerufen, wiederhergestellt werden.

Ungestört sinniert Nikol vor sich hin, bis ihn ein gewisser Schmuskatz unter der Treppe entdeckt. Der ehemalige Gletscherfotograf, Mitte 80, lädt ihn zum Essen in seine Wohnung im Erdgeschoss ein. Die Chemie zwischen beiden stimmt sofort.
„Rückblickend betrachtet war das Essen bei Schmuskatz ein großer Erfolg. Es hatte jenen Glanz, den die Dinge brauchen, damit sie zum Anfang einer Gewohnheit werden können. In der Minute, als Schmuskatz das Paprikahendl auftrug, kam der Hunger zurück, der mich so lange Zeit verlassen hatte. Die Küchentür öffnete sich lautlos, und hindurch kamen alle Hunger auf einmal: Der nach Unterhaltung und Gespräch, der nach Geschmack und Feuchtigkeit, der nach dem Widerhall meiner Stimme und nach den Farben des Tals. Ich war an diesem Abend bei Schmuskatz wie ein Bergsteiger, der absteigt und mit jedem Meter Leben zurückgewinnt.“
Nikol schüttet ihm sein Herz aus. Nicht zuletzt in Sachen M., seiner großen Liebe. „An ihrer Seite war das Unsichtbare sichtbar, und das Unnütze wurde nutzbar. Alles, was ich bieten konnte, traf bei ihr auf Nachfrage. Sie war in allen Dingen das, was fehlte.“

Schmuskatz plaudert seinerseits aus dem Nähkästchen. Etwa über Jugendsünden hinsichtlich Versteinerungen-Diebstahl in der Kirche: „Mein erster Fund! Und jeden Tag trampelten diese alten Weiber darüber, können Sie sich vorstellen, so richtig alte Kirchenweiber, die es heute gar nicht mehr gibt, standen darauf herum und taten heilig. Das hat mir wehgetan, deswegen bin ich eines Tages mit Hammer und Meißel hin, die ich aus der Werkzeugtasche unseres Bettgehers genommen hatte, und habe angefangen, meinen Trilobiten aus dem Kirchenboden zu schlagen. Ich wollte ihn mitnehmen. Das hat gedonnert, können Sie sich das vorstellen? Es ging eine ganze Weile gut, aber dann kam jemand und hat mich verprügelt. Stand sogar in der Zeitung.“
Schmuskatz zeigt Nikol seine Widmungsbibliothek, zusammengestellt und sortiert nach den Widmungen vorne im Buch.

Wer seine pfiffigen, subtilen, pointenreichen Beiträge in der Süddeutschen Zeitung, nicht zuletzt auf jetzt.de, dem jungen Magazin der SZ, verfolgt, wird nicht überrascht sein über einen Roman aus Max Scharniggs Feder. Wofür er nun (bzw. für das Buchprojekt im Vorfeld) im letzten Jahr den Literatur-Förderpreis der Landeshauptstadt München erhalten hat und zum renommierten Bachmann-Preis eingeladen (von der dortigen Jury allerdings verrissen wurde), für den diesjährigen Nachwuchspreis der Lit.Cologne nominiert worden ist.

Angesichts von Scharniggs journalistischen Themenschwerpunkten wie Indie-Pop, junge Gegenwartsliteratur, Zeitgeist-Typografien, Heranwachs-Erinnerungen oder den (bereits in Buchform unter dem Titel „Das habe ich jetzt akustisch nicht verstanden“ gesammelt erschienenen) Alltagsphrasen-Kolumnen hätte man seinerseits auch expliziert realitätsgetreue Gegenwarts(Pop)-Literatur erwarten können.

Stattdessen überrascht Scharnigg mit einer Parabel samt Bergbezwingungs-Metapher als Roter Faden hinsichtlich Straucheln, Zurbesinnungkommen, Diedingeindiehandnehmen, Nachhausekommen. Nicht ohne sich stilistisch treu zu bleiben.
Auch hinsichtlich seines Gespürs für Situationskomik. Etwa bei Nikols unfreiwilligem Tanz mit einem ausgestopften Reiher in Schmuskatz` Wohnung: „Das Tier missdeutete meine Absicht, kippte mir mit einem Staubschweif in die Arme. Ein paar Momente tanzte ich mit dem ausgestopften Reiher, wankte unter seiner Landung, dann hatte ich ihn ganz wie von selbst unter meinem linken Arm und trug ihn weiter.“
Oder etwa wenn es um die Sitzgewohnheiten des Einzelgängers Schmuskatz geht: „Ich benutze sie alle vier gleichmäßig, seit einundvierzig Jahren, jede Woche ein anderer Stuhl. Allerdings, wenn Sie öfter kommen, muss ich mein System anpassen, (…).“

Dazu ist „Die Besteigung der Eiger-Nordwand unter einer Treppe“ streckenweise äußerst melancholisch und poetisch: „Am anstrengendsten ist meine Unscheinbarkeit übrigens in Restaurants, wo ich Kellner oft erst durch mehrmaliges Ansprechen von meiner Anwesenheit überzeugen kann. Fast immer sind es italienische Restaurants, in denen diese Szenen geschehen. Es gibt davon in der Stadt so viele, dass sich das Heimweh ihrer Wirte und Köche an Tagen mit hoher Luftfeuchtigkeit zu großen, auberginefarbigen Wolken ballt, die dann zunächst noch eine Weile über der Stadt stehen und schließlich gemeinsam über die Alpen ziehen, wo sie sich verteilen und abregnen, eine jede über dem Landstrich des Wirtes.“

Nach dem Essen kehrt Nikol unter die Treppe zurück. Um sich weiter der Kontemplation hinzugeben. Bald darauf lädt ihn Schmuskatz erneut zu sich ein. Statt Paprikahendl kredenzt Schmuskatz nun Danziger Goldwasser. Sehr reichlich. Er bringt Nikol dazu, mit ihm den Weg in den 2. Stock anzutreten. Nach Hause. In seine Wohnung. Zu M. (womit Schmuskatz an den weisen Glasknochen-Kauz im französischen Kinofilm „Die fabelhafte Welt der Amelie“ erinnert, der der schüchternen Titelheldin auf die Sprunge hilft).

So macht sich ein sehr komisches Gespann im Treppenhaus auf den Weg. Besoffen. Im Dunkeln („Kein Licht!, raunte Schmuskatz“). Mit Gletscherausrüstung. Per Seil am Treppengeländer gesichert.
„Meine Hand griff in den Wollpullover des Alten, ich taumelte, er gab mir wieder Halt und reichte mir eine Seilschlaufe.
Eh, festmachen, bitte schön!
Aber wo?
Ziehen Sie es doch durch die Gürtelschlaufen. Das ist zwar nicht gerade gletscherspaltensicher, aber für die Treppe wird es wohl reichen.“

Abgesehen von der urkomischen Vorstellung, die sich dem Leser aufdrängt, jemand der anderen Hausbewohner könnte die beiden so sehen, bringt der Aufstieg Nikol Erlösung (stimmig dazwischenmontiert: Der nun in Nikols imaginärem Word-Dokument vollständig vorliegende Eiger-Nordwand-Erstbesteigungs-Zeitungsartikel): „Ich hatte mit diesem Schritt den Krümmpunkt gefunden und überwunden. Der eine verlorene Zentimeter, der nicht mehr Tal ist und noch nicht ganz Berg, lag unter mir. Er war im zarten Weh meiner Knie, in meinem schnellerem Atem hier oben, er war die Besteigung an sich.“

Dass Nikol schlussendlich die Dinge in die Hand nimmt, es wissen will statt sich zu verkriechen, soll sich für ihn lohnen: „Das kann nicht sein“ hatte Nikol zuvor beim Gelage in Schmuskatz` Wohnung ungläubig geseufzt. Hinsichtlich des Nebenbuhlers bei M. Womit er am Ende rechtbehalten soll…

Max Scharnigg, „Die Besteigung der Eiger-Nordwand unter einer Treppe.” Erschienen 2011 bei Hoffmann und Campe. 158 Seiten, gebunden, 18 Euro.

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