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Offener Brief: Zeitgemäße Kulturpolitik jetzt!

EIN OFFENER BRIEF ZUM JAHRESBEGINN 2022 des Netzwerks Freie Szene München

Sehr geehrte Politiker*innen und Entscheidungsträger*innen,

sehr geehrte Medienvertreter*innen,

liebe Kolleg*innen,

es muss jetzt kulturpolitisch nachgebessert werden!

Nächste Woche (die aktuelle Woche, der Brief ist vom 16. Januar, Anm. d. Red.) wird es eine neue Infektionsschutzverordnung geben, die Kunst und Kultur zu Zeiten der Pandemie regeln soll. Zeit also, an die noch offenen Forderungen unserer Dachverbände zu erinnern:

Zum Nachlesen hier die Links zu den Papieren des Verbands der Freien Darstellenden Künste Bayern, desBayerischen Landesverbands für Zeitgenössischen Tanzdes Bundesverbandes der Freien Darstellenden Künste und der Allianz der Freien Künste:

Das Hauptthema ist natürlich die Ungleichbehandlung von Kunst und Kultur in Bayern. Zitat:

Für die Kulturschaffenden aller Sparten und das Kulturpublikum ist es nicht vermittelbar, warum eine Kulturveranstaltung mit 2G+, FFP2 Maske, Mindestabstand und 25% Raumauslastung belegt wird, während z.B. die angeschlossene Gastronomie mit 2G ohne Maske und ohne Abstand arbeiten kann. Geradezu obszön ist die geltende 75%-Belegung von Gondelbahnen aus wirtschaftlichen Gründen. (link zum Volltext)

Auch nach dem runden Tisch am 12.1.2022 konnten offenbar keine Signale in Richtung Vernunft und wissenschaftlicher Fundierung gesandt werden: Die Schlechterstellung der Kunst soll weiter Bestand haben. Sie wird als symbolträchtiger Träger bundespolitischer Profilierung genutzt. Dass sich gerade für kleine Bühnen eine 25%-Regelung mit keinem Betriebskonzept vereinbaren lässt, ist sicherlich allgemein verständlich. Allerdings ist diese Quote kaum relevant: Für die meisten Orte setzt der vorgeschriebene Abstand von 1,5m zwischen den Plätzen eine noch niedrigere Grenze. 50% bei 1,5m Abstand sind bloße Augenwischerei. Der Quasi-Lockdown hat im Vergleich zu einem tatsächlichen Lockdown den praktischen Nutzen, finanzielle Verantwortung von der Landesebene auf die Bundesebene abzuwälzen. Die Wertschätzung für Kunst und Kultur bei solchen Maßnahmen ist offenkundig. Aber jenseits von wirtschaftlichen Überlegungen sollte bei kulturpolitischen Entscheidungen doch eigentlich auch von den Arbeiten und ihrem Publikum gesprochen werden: Die schlimmste Verschwendung in dieser Politik ist nicht die finanzielle, sondern die von künstlerischer Arbeit, die ihr Publikum nicht erreicht.

Was kann man tun? Es ist dringend notwendig, aus den gemachten Erfahrungen einen kohärenten Stufenplan zu entwickeln, der Verschärfungen und Lockerungen so strukturiert, dass damit geplant werden kann. Stufen, in denen ein sinnvoller Zusammenhang zwischen den Maßnahmen in Kultureinrichtungen, Unterricht, Arbeitsplätzen und generell allen betroffenen Bereichen hergestellt wird – gepaart mit möglichen Hilfsprogrammen. Es muss immer zuerst darum gehen, Leben zu retten, aber darüber hinaus auch Existenzen. Das Desaster, das die „Corona-Ampel“ mit sich brachte, an deren Umschalten keine nachvollziehbaren Folgen geknüpft waren, darf sich nicht wiederholen.

Wir fordern Transparenz, Dialog und Kohärenz der Maßnahmen.

Die Nachbesserung der bestehenden Hilfsprogramme muss übergehen in eine komplette und grundsätzliche Überarbeitung der Förderstruktur in Bayern. Die Tatsache, dass der aufgelegte Bayerische Hilfsfonds weit an den Realitäten einer heutigen professionellen künstlerischen Arbeit vorbeigeht, ist nur eine der Folgen von jahrelangen kulturpolitischen Fehlentwicklungen. Die Verbände VFDKB, BLZT und der Verband der Freien Kinder- und Jugendtheater Bayern müssen gehört werden. Die Voraussetzungen dafür, gute Kunst machen zu können, haben sich in den letzten Jahren stark verändert.

Wir fordern zeitgemäße Kulturpolitik jetzt!

Der Kulturfonds Bayern muss abgeschafft und durch ein in der Realität verankertes Werkzeug ersetzt werden. Die Säulen dafür hat der Landesverband freie Darstellende Kunst aufgeführt. Zitat:

  • Aufstockung der Förderung der Freien Szene
  • Einführung eines Mehrsäulensystems, das Produktion, Recherche, Austausch und Vermittlung der Künste stärkt
  • Innenstädte beleben
  • Kunst im öffentlichen Raum
  • Kultur im ländlichen Raum
  • Kulturelle und Politische Bildung

(link zum Volltext)

Und da wir die Münchner Interessenvertretung sind, müssen wir leider immer noch wiederholen: auch wenn die Kulturpolitik auf Landesebene nach wie vor so tut, als seien München und Nürnberg nicht teil von Bayern; sie sind es. Geographisch ebenso wie politisch. Erst dann kann über Kohärenz in der Kunstfinanzierung überhaupt sinnvoll diskutiert werden. Bayern ist ein Land voller großartiger, wilder, zukunftsweisender Kunst. Sie ist es wert, für sie zu kämpfen.

In München ist das Netzwerk Freie Szene bereits dabei, die Neuauflage der Förderstruktur mitzugestalten. Auf allen Ebenen: Von Projektfinanzierung bis Infrastruktur, von Produktions- zu Vorstellungsorten, von Berufsanfang bis Archivierung führen wir Gespräche. Das Grundsatzpapier über die aktuellen Gegebenheiten, das unter Leitung von Anne Schneider entstanden ist, kann von niemandem in Politik und Verwaltung ignoriert werden. (Hier ist der Link zum Dokument)

Die Freie Szene in München hat eine lange Geschichte und gerade in den letzten Jahren begann eine neue Blütezeit. Egal, was man nun individuell als Erfolg von Kunst beschreibt: er ließ sich hier beobachten. Richtig gute Arbeiten, Aufmerksamkeit, wachsende und bleibende Strukturen, Auszeichnungen, Veränderung. Das ist eine Folge einer neuen Form solidarischer Aktion über alle Sparten hinweg.

Unser Festival RODEO wäre unter den Vorzeichen von Corona beinahe dauerhaft aufgegeben worden. Stattdessen konnten wir eine deutlich verbesserte Struktur und Ausstattung durchsetzen. Auch sonst wurde nicht gekürzt bei der Freien Szene und an einigen Stellen konnte sogar mehr erstritten werden. Darüber freuen wir uns. Das gibt uns Hoffnung.

Und dennoch: Es gibt Missstände und Probleme, die angegangen werden müssen. Gerade weil München immer teurer und enger wird, sind die hochnotpeinlichen Zustände jetzt anzugehen, die wieder und wieder durch die Trennung von Vertrags- und Fachkompetenz erzeugt werden. Die Stadt hat sich beim Umgang mit den eigenen Ressourcen und Räumen an vielen Stellen strukturell handlungsunfähig gemacht. Wer z.B. entscheidet über was auf dem Kreativquartier? Menschen, die ihre Räume über Jahre hinweg aufgebaut haben, wissen im Moment nicht, ob sie sie seit dem ersten Januar offiziell weiter betreiben dürfen. Ganze Theater müssen ohne vertragliche Grundlage eröffnet werden. Alles stockt. Der Beschluss, in Jutier- und Tonnenhalle ein Produktionshaus für die Freie Szene zu eröffnen, wurde getroffen, als Helmut Kohl gerade das letzte Mal zum Bundeskanzler gewählt wurde (neunzehnhundertvierundneunzig!). So werden Arbeit, Lebenszeit und die besten Intentionen auf allen Seiten nach und nach fein zerrieben.

Und natürlich – das muss allen klar sein – es ist nicht sicher, welche Freien Bühnen und Gruppen die Pandemie überstehen werden. Eine Mischung aus langfristiger Strukturarbeit und direkter Hilfe ist notwendig.

Denn am Ende ist es einfach. Es geht um Solidarität.

Wir sprechen über die Finanzierung von Kunstprojekten, weil das unser Auftrag als Netzwerk ist, aber dahinter steht immer die Frage: was ist möglich in unserer Gesellschaft? Und welche Gesellschaft ist möglich? Diese Grundfragen von künstlerischer Arbeit haben in der Pandemie einen anderen Nachklang. Leere Säle klingen anders.

Wir sind die Freie Szene. Wir finden auch im Moment Wege, unsere Arbeiten zu entwickeln und zu zeigen (siehe freieszenemuc.de für aktuelles Programm). Wir sind es gewohnt, uns an dem entlang zu arbeiten, was gegeben ist. Und wir werden weiter dafür streiten, unsere Gesellschaft zu einer solidarischeren zu machen, das Leben interessanter und unsere Stadt lebendiger. Noch sind wir da.

Es muss sichergestellt werden, dass wir hier weiter leben und arbeiten können.

Bleiben wir im Gespräch.

Netzwerk Freie Szene München


Beitragsbild: RODEO, “Heimatlos” ©Cem Czerwionke

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