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Giesing blickt Richtung Zukunft – das Kunstprojekt ZEITKAPSEL geht in die nächste Runde

Simon Hirler

Jede*r hat etwas zu erzählen, oft braucht es nur einen Raum, um diese Geschichten erfahrbar zu machen. Genau so einen Raum bietet das Projekt ZEITKAPSEL in Giesing. Schon seit Mitte Mai findet man die Kunstinstallation zentral vor dem Postgebäude an der Tegernseer Landstraße – und zwar in Form einer umgestalteten gelben Telefonzelle. Wer sich ins Innere der Kabine traut, kann über einen Bildschirm in die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft Giesings eintauchen. In der Telefonzelle werden die unterschiedlichsten Beiträge ausgestellt; thematisch umfassen sie alles, was das Viertel und seine Bewohnenden bewegt. Die ZEITKAPSEL versteht sich als Mischung aus Kunstinstallation, Gemeinschaftsprojekt und Ort der Begegnung. Ab 26. Juli beginnt nun die neue Etappe „Zukunft“.

Zeitreisen per Telefonzelle

Auf die Idee, eine alte Telefonzelle zum Kunstobjekt umzubauen, kam die Initiatorin und Kuratorin der ZEITKAPSEL Miriam Worek (Titelbild). „Telefonzellen sind mittlerweile völlig aus dem öffentlichen Raum verschwunden, aber sie sind trotzdem vielen Leuten noch vertraut“, erklärt Miriam.  Sie stünden nicht zuletzt für das In-Kontakt-Bleiben zwischen den Menschen. Die Telefonzelle als Ort der Kontaktaufnahme, der jedem frei zugänglich ist, passe perfekt zum Konzept der ZEITKAPSEL. Gefunden hatte Miriam die Telefonzelle schließlich über eBay Kleinanzeigen, der Umbau zum „audiovisuellen öffentlichen Raum“ erfolgte während der Corona-Pandemie.

Durch die Umrüstung hat das Team der ZEITKAPSEL einen Raum für verschiedenste Präsentationsformen geschaffen: Von Fotostrecken und Reportagen, bis hin zu Podcasts, Interviews und kurzen Filmen bietet die ZEITKAPSEL einen tiefen Einblick in den Charakter des Viertels. Inhaltlich gliedert sich das Projekt in drei Etappen: „Vergangenheit“, „Gegenwart“ und ab dem 26. Juli „Zukunft“. Bis Ende August können dazu noch Beiträge eingereicht werden.

Die bisher gezeigten Werke stammen von Bewohner*innen des Viertels, Künstler*innen, Studierenden und Vereinen. Die Themen der Projekte sind genauso divers wie deren Schöpfer. Zu den Etappen „Vergangenheit“ und „Gegenwart“ ist Miriam ein Thema besonders in Erinnerung geblieben: Das Projekt „KAMERA“ des Künstlers Alexander Steig. Es dokumentiert die Geschichte der Zwangsarbeiterinnen des Agfa-Kamerawerks in den Jahren 1944-45, die in einem Wohnhaus in der Weißenseestraße interniert waren. Dieses ins Vergessen geratene Thema und das Gedenken daran wurde durch die ZEITKAPSEL wieder präsent und einem breiten Publikum zugänglich.

Die Zeitkapsel als Ort der Begegnung

Die ZEITKAPSEL ist aber auch ein Ort für persönliche Geschichten und spontane Begegnungen. Das Kunstprojekt baut als „lebendiges Archiv“ stark auf dem Mitwirken der Giesinger*innen auf: Beispielsweise ist jeden Dienstag von 17:00 Uhr bis 19:00 Uhr eine „Reisebegleitung“ vor Ort, die einen zwanglos in das Konzept der ZEITKAPSEL einführt und von ihren persönlichen Erfahrungen im Viertel erzählt. Hinzu kommen die Stadtschreiber*innen und Botschafter*innen des Projekts: Sie sind im Viertel unterwegs,  suchen nach interessanten Menschen und Themen und erzählen den Leuten vom Projekt. „Der Zugang zu den Themen läuft immer übers Persönliche“, findet Miriam. Es gehe einfach darum, mit den Menschen ins Gespräch zu kommen.

Das Viertel als Gemeinschaftsprojekt

Die letzte Etappe des Projekts beschäftigt sich mit der Zukunft des Viertels: Hier finden auch Themen wie gendergerechte Stadtplanung, das Verschwinden von Subkultur oder die schleichende Gentrifizierung Platz. „Die Beiträge sollen einfach neugierig machen“, sagt Miriam. Die Themenauswahl ist topaktuell und behandelt genau das, was die Giesinger*innen umtreibt. Gerade mit Blick auf diese zukünftigen Herausforderungen sei es wichtig gewesen, „einen Ort zu schaffen, zu dem sich wirklich alle eingeladen fühlen“, meint Miriam. Denn so dient die Zeitkapsel auch als offenes Diskussionsforum: Sie lädt nicht nur dazu ein, künstlerisch aktiv zu werden, sondern auch „miteinander und voneinander zu lernen.“ Das Projekt soll Denkanstöße liefern und alle ansprechen – unabhängig von Identität, Alter oder Herkunft.

Dieser „neue Blick“ auf das eigene Viertel war dem Team von Beginn an ein großes Anliegen. „Wenn Leute über ihr Viertel Bescheid wissen und miteinander verbunden sind, setzen sie sich auch dafür ein“, findet Miriam. Die ZEITKAPSEL sei in gewisser Weise also auch ein politisches Statement über die Wichtigkeit öffentlicher Räume. In der Großstadt diene das Viertel quasi als kleinste soziale Einheit, erklärt sie weiter. Hier habe man alles, was man zum Leben brauche. Diese Räume zu stärken sei gerade deshalb so wichtig. Auch die ZEITKASPEL fördere den Zusammenhalt der Bewohner*innen, über sie blieben die Leute in Kontakt und nehmen die Entwicklungen des Viertels stärker wahr. Somit trage auch sie zum Erhalt des Viertels als vielfältigem öffentlichem Raum bei.

Die Reise der Zeitkapsel geht weiter

Auch nach dem Ende der Etappe „Zukunft“ soll das Projekt weiterlaufen: Ab dem 26. August werden im „Finale“ noch einmal bis zum 10. September Beiträge aus allen 3 Zeitintervallen in der Zeitkapsel zu sehen sein. Ab Oktober sind dann alle Beiträge online in einem digitalen Archiv einsehbar. Für die Zukunft des Projekts sind in den kommenden Jahren neue Standorte in anderen Vierteln denkbar.

 Die Vernissage zur Etappe „Zukunft“ am Dienstag, den 25. Juli um 19.00 Uhr am Tegernseer Platz 7 statt. Bei schlechtem Wetter wird die Eröffnung auf Mittwoch, den 26. Juli verschoben.