Kultur, Nach(t)kritik

Träumen mit offenen Augen

Annette Walter
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Juliane Lorenz (links) und Hanna Schygulla im Marstall

“Es war wie Träumen mit offenen Augen”, erinnert sich Hanna Schygulla an ihre Zeit mit Rainer Werner Fassbinder. Bei einem Abend im Münchner Marstall im Rahmen des Wochenendes “Fassbinder – still alive” wurde die Ära des antiteaters reflektiert.

Der Abend war Teil eines Wochenendes, das sich mit dem vor 30 Jahren verstorbenen Künstler befasste. Die Schauspielerinnen Hanna Schygulla und Irm Herrmann, beide Mitbegründerinnen von Fassbinders antiteater, Juliane Lorenz, Cutterin zahlreicher Fassbinder-Filme und Lebensgefährtin bis zum Tod des Regisseurs, Filmwissenschaftler Michael Töteberg und Claudia Blank, Leiterin des Deutschen Theatermuseums München, diskutierten am Samstagabend über das radikale Theaterschaffen des Regisseurs.

Alles beginnt 1967 in der Münchner Müllerstraße im Action-Theater. Dort, wo sich heute eine Spielhalle befindet, ist Ende der 1960er-Jahre da Avantgarde-Theater daheim, Gegenentwurf zu den großen Bühnen der Stadt. Hier übernimmt Fassbinder seine erste Rolle in “Antigone”, hier wirkt er erstmals als Co-Regisseur von Büchners “Leonce und Lena”. Das Feuilleton ist zunächst wenig begeistert: “Alle Kinder der Welt müssten “Leonce und Lena” von Georg Büchner gelesen haben. Sie sollten es nur nicht immer öffentlich tun. Dieses Stück ist zu schön”, lästert die Süddeutsche Zeitung.

In diesem Stück betritt eine Frau die Bühne des Actions-Theaters, die später zur Muse Fassbinders werden soll: Hanna Schygulla. Sie studiert damals Philologie im neunten Semester an der Ludwig-Maximilians-Universität. Doch das Studium füllt sie nicht aus, sie nimmt deshalb abends Schauspielunterricht und lernt dort Fassbinder kennen, ist fasziniert von ihm, diesem Mann, der in Lederjacke herumläuft und Goethe verehrt. Sehr körperlich sei das Theatermachen gewesen, das genaue Gegenteil zum ständigen Analysieren des Studiums, das sie leid gewesen sei. Auch Irm Herrmann berichtet, wie sehr sie die erste Begegnung mit Fassbinder beeindruckt habe: Mehrere Stunden liest er ihr aus einem Roman vor. Sie, die zuvor bürgerlich als Sekretärin arbeitet, kommt über ihn zur Schauspielerei.

Im Juni 1968 muss das Action-Theaters wegen finanzieller Schwierigkeiten schließen. Wenig später gründet Fassbinder mit seiner Gruppe das antiteater. Inszeniert werden Stücke wie Goethes “Iphigenie auf Tauris”, Handkes “Hilferufe” und “Preparadise sorry now” vom Meister selbst. Eine Zeit lang probt die Truppe im Hinterzimmer der Schwabinger Kneipe Witwe Bolte. Doch der Wirt wirft die Truppe raus. Lukrative Kundschaft geht vor.  Doch auch das lähmt den  Spieltrieb der Truppe nicht. Man gastiert  im Werkraum der Kammerspiele mit “Anarchie in Bayern”. Fassbinder wird ans Bremer Theater, das damals als innovativste Bühne der Bundesrepublik gilt,  geholt, bringt “Das Kaffeehaus” nach Goldoni auf die Bühne. Doch irgendwann reicht Fassbinder das Theater nicht mehr: 1969 feiert sein erster Spielfilm “Liebe ist kälter als Tod” Premiere. Die Underground-Bühne ist auf der Filmleinwand angekommen.

(Foto: Juliane Lorenz (links) und Hanna Schygulla im Marstall)

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