Kultur, Nach(t)kritik

Reise ans Ende des Deliriums

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Fotocredit Matthias Horn

Die Reise bis ans Ende der Nacht ist Frank Castorf’s zweite Inszenierung des Autors Louis Ferdinand Destouches alias Céline. Jahre zuvor hatte er sich schon an einen Teil des Spätwerks, Nord, gewagt, eine Inszenierung an der Berliner Volksbühne, die ähnlich karnevalesk daher kam, wie der heutige Abend, der sich dem Romanerstling zuwandte.

Bei Castorf wird die Voyage ein einziges Delirium, ein einziger grotesker Karneval, bei dem die Romanvorlage wild durcheinander gewürfelt wird, so dass man ins straucheln käme, wollte man versuchen die Geschichte dieses Abends linear zu erzählen. Die Inszenierung Castorfs ist eine einzige Halluzination, in der der wütende, mündliche Stil Célines in ein Feuer der Affekte übersetzt wurde, das mit viel Krawumm durch die Aufführung jagt und durch großartige schauspielerische Leistungen punktet. Über dem drehbaren bunten Bretterverschlag, der Kolonien, Amerika und Frankreich zugleich verkörpert (Bühnenbild: Aleksander Denić) thronen höhnend die Leitsätze der französischen Revolution: „Liberté, Égalité, Fraternité“. Diese Gleichheit existiert nicht in der kolonialisierten Hölle Afrikas oder der kapitalistischen Maschinerie Amerikas und auch von Revolution ist auf der rasanten Reise, an der man hier ca. 4 Stunden lang teilnimmt, nichts zu merken.

Die Hauptfigur dieser Hetzjagd, Ferdinand Bardamu auf der Bühne wunderbar verkörpert durch Bibiana Beglau und Frank Pätzold befindet sich auf einer wilden Fahrt durch die Hölle seiner Zeit: Von Afrika, einer Hochburg der Zersetzung und Kontamination geht es in den Krieg und wieder zurück, nach Amerika, nach Paris und in die französische Provinz. Und nochmal von vorn und wieder herum – ein taumelnder Drehschwindel von Ereignissen auf dem Carrousel des Lebens (oder in diesem Fall dem der Drehbühne).

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Angetrieben von der unheilbaren Angst vor dem eigenen Tod, seinem Herz, diesem „Hasen hinter seinem kleinen Rippengitter“ verliert sich der Protagonist mehr und mehr in einem Fieberdelirium, sich panisch an ein Huhn klammernd, von dem man jederzeit befürchtet, dass es einen Herzschlag erleidet. Der Blutrausch des Krieges, der sich überall wiederholt, hat die Wahrnehmung verändert. In diesem Zustand sieht man doppelt: Frank Pätzold springt zwischen Bardamu und seinem Alter Ego Léon Robinson hin und her und rast mit einer Energie über die Bühne, dass man kaum mithalten kann. Demgegenüber steht Bibiana Beglaus fieses Mienenspiel, ganz im Sinne von Chaplins Modern Times mit dem sie ihrer Rolle eine groteske, absurde Note verleiht. So absurd, wie die Brutalitäten, die Bardamu an jeder Ecke auflauern und so einen dauerhaften Kriegszustand simulieren.

„Wie lange wird es noch gehen, dieses Delirium?“

In dieser bunten Welt aus Federn und Revuegirls scheint sich die Misere endlos zu wiederholen. Nichts ist wie es scheint, in diesem Niemandsland der Verwirrten, die so jungfräulich in den Krieg gezogen sind und mit einem kollektiven Trauma zurückkehren. Alle gemeinsam sind sie eine Bestie mit vielen Köpfen, die Menschheit selbst, die sich über ihre ganze stinkende Bösartigkeit hinwegtäuscht. Am Ende der Nacht lauert das Nichts des Todes, eine absurde Fratze die jedem grinsend ihre Zähne zeigt, vor allem den Armen.

„Lügen, ficken, sterben“

„Normale“ Gefühle wie Liebe oder Vertrauen sind in einer Welt nach dem ersten Weltkrieg nicht mehr möglich. Nur noch mit Hass und Ekel weiß sich der Protagonist gegen die Welt zu wappnen. – Und mit dem süßen Nichts der Halluzination, die einem die Welt ein bisschen versteckt. So sind die Liebesaffären Bardamus nicht von Dauer: die Amerikanerin Lola, quält er mit fiesen Bemerkungen über ihre kranke Mutter, bis sie ihm Geld gibt und auch die Prostituierte Molly, die er „auf seine Weise“ liebt, schafft es nicht, ihn zu halten.  So erschießt die wildgewordene Madelon ihren Verlobten Robinson schließlich gleich zweimal, einmal vor der Pause und dann gleich noch einmal – in dieser Jahrmarktatmosphäre könnte man sagen, weil’s so schön war – am Ende.

„Jetzt macht der Ärmste Inventur mit seinem Gewissen“

Bardamu bleibt dieses fulminante Finale verwehrt, nicht einmal Mitleid kann er empfinden für seinen Freund. Mitleid hat der Protagonist nur für die Unschuldigen übrig, Kinder oder Tiere also, die für ihr Leid nichts können und deren Schicksal er hilflos mitansehen muss. Menschen aber, so die Diagnose des infizierten Arztes, sind durch und durch schlecht. Und so verliert sich Bardamu (Bibiana Beglau) tanzend in einer Auflösungsfantasie, in der alles von der Seine davon getragen wird.

Über all dem thront das löchrige Bild von Céline, diesem großen „Scheusal“ der französischen Literaturgeschichte, der seine Figuren mit seinem eigenen Ich infizierte – und sich selbst später mit dem Antisemitismus, der in seinem Erstling nur sehr latent präsent ist. Einige Fragen hat dieser rasante Abend aufgeworfen, der das Themenwochenende der „Unruhigen Träume“ im Residenztheater abschloss. Fragen darüber, ob Bardamus Fazit, dass alle Menschen grausame, lügende Schweinehunde sind, nur die Prognose eines malariainfizierten Irren ist oder ob sich wirklich, wie Nietzsche es formulierte, die Wahrheit gerade im (dionysischen) Rausch finden lässt. Die Frage, wo das alles hinführt (in Célines Fall in das Schreiben antisemitischer Hasstiraden), nicht zu vergessen.

Reise bis ans Ende der Nacht

Regie: Frank Castorf

Im Residenztheater

Weitere Infos: http://www.residenztheater.de/inszenierung/reise-ans-ende-der-nacht

Fotocredit: Matthias Horn

Nächste Vorstellungen:

Sa 30. 11 19: 00 Uhr

Sa 14. 12 18:00 Uhr

Do 19. 12 19:00 Uhr

Mo 30. 12 19:00 Uhr

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