Stadt

Reise in die Fremde – Herta Müller liest im Audimax

Salvan Joachim
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Das Audimax verwandelt sich in ein Schiff. Die Besatzung blickt nicht, wie vor ein paar Monaten, in eine ungewisse Bildungszukunft und rudert gegen die Bolognawelle an. Nein, diesmal geht die Reise in die Vergangenheit, in das Leben von Herta Müller. Die Literaturnobelpreisträgerin versuchte in ihrer dritten Münchner Lesung binnen der letzten Monate das Unvorstellbare vorstellbar zu machen: Eine bedrückende Kindheit in der rumänischen Provinz, die stete Angst im Überwachungsstaat Ceausescus und die Erfahrungen der Deportation.Als Herta Müller die Bühne betritt, wirkt sie unsicher und zerbrechlich. Wie bei all ihren öffentlichen Auftritten in letzter Zeit ist sie ganz in schwarz gekleidet, das Deckhaar hat sie sich aus der Stirn gekämmt. Sie scheint zu versinken hinter dem mitgebrachten Bücherstapel und dem großen Tischmikrofon vor ihr. Doch Herta Müllers Stärke liegt in ihrer Sprache, in ihrer Begabung, Geschichten über das Unfassbare zu verfassen.

Die Lesung beginnt mit einer Passage aus dem Buch „Cristina und ihre Attrappe: oder Was (nicht) in den Akten der Securitate steht“. Erst vor einigen Monaten bekam Herta Müller die über sie angefertigten Überwachungsprotokolle des rumänischen Geheimdienstes ausgehändigt. Die rund 900 Seiten erschienen ihr jedoch unvollständig und so beschrieb sie ihre eigene Erinnerung: Sie sollte als Spitzel angeworben werden, als sie nach ihrem Studium als Übersetzerin in einer Maschinenfabrik arbeitete. Doch sie weigerte sich. Die folgende Zeit war mit täglicher Schikane verbunden. Eines Tages fand sie ihre Lexika abgelegt vor der Tür ihres Arbeitszimmers. Sie arbeitete auf den Stufen der Treppe weiter. Nur eine Freundin setzte sich manchmal neben sie, ließ sie von Zeit zu Zeit an ihrem Tisch arbeiten, bis auch das verboten wurde und Herta Müller ihren Arbeitsplatz verlor.

Applaus bleibt aus. Zu gebannt sind die Zuschauer von der Eindringlichkeit der Schilderung. Ernest Wichner bricht zuerst das Schweigen. Er führt durch die Lesung und ist nicht nur Kurator der, zur Zeit in München zu sehenden, Ausstellung „Herta Müller. Der kalte Schmuck des Lebens“, sondern vor allem als langjähriger Freund der Autorin einer der besten Kenner ihres Werkes. Wichner zitiert einen Spitzelbericht des rumänischen Geheimdienstes, nach dem „kein einziges optimistisches Wort“ in Herta Müllers erstem Erzählband „Niederungen“ zu finden sei. Aus diesem liest die Schriftstellerin anschließend eine Geschichte vor, die den Titel „Meine Familie“ trägt. Die darin beschriebene Unwissenheit, welches Familienmitglied denn wirklich von welchem Mann gezeugt wurde und die Beschreibung des Geredes im Dorf erheitern das Publikum. Doch den Zuhörern bleibt das Lachen sofort im Halse stecken, als Herta Müller den Tod der Urgroßmutter erst mit einem fadenscheinigen Schnupfen, dann mit Selbstmord und zuletzt mit Mord erklärt. Zuletzt weiß keiner mehr, was eigentlich passiert ist, was alles hinter diesen Worten steckt. Die Unsicherheit, die Irritation kehrt immer wieder an diesem Abend – auch in den Textausschnitten aus „Herztier“ und „Atemschaukel“. Eine intensive Bildsprache auf der einen und die Sachlichkeit der Erzählung auf der anderen Seite lässt den Zuhörer alleine mit der Vorstellung des Geschehenen – und dennoch wird die Bedrückung immer deutlicher, die Herta Müller in ihrem Leben erfahren musste.

Zuletzt nickt sie ein paar Mal mit dem Kopf, der Versuch einer Verbeugung. Dann verschwindet Herta Müller eilig aus dem Audimax. Nach nicht viel mehr als einer Stunde legt das Schiff wieder im Hafen an. Doch die Zeitreise hinterlässt Spuren. Man sieht es den Gesichtern der Menschen an, die sich nur langsam in ihre schweren Mäntel hüllen und von Bord gehen.

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