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Über den digitalen Nachbarschaftskrampf
Nachbarn können nerven, uns aber auch in Notsituationen aushelfen. Trotz gefeierter Großstadtanonymität mag man sich jetzt in der Nachbarschaft wieder lieber, zumindest legen das zahlreiche Nachbarschafts-Apps und Portale nahe.
Meine Nachbarn können ziemlich anstrengend sein. Da wäre das trampelnde Pärchen über mir, die glücklicherweise das ab 6 Uhr morgens Bobby-Car fahrende Kleinkind abgelöst haben, eine bemerkenswert unhöfliche Frau in ihren 50ern den Gang runter. Ihr gegenüber eine ältere Dame, die in ihrem lilablassblauen Hausanzug die Personifizierung nachbarschaftlicher Neugierde in einem Theaterstück spielen könnte. Mein direkter Nachbar ist immerhin ein ruhiger und netter Mensch.
Ganz anders als die verrückte Kirchenfrau aus dem siebten Stock, die einen über gleichgeschlechtliche Beziehungen im Aufzug warnt. Im Untergeschoss befindet sich eine Herren-Sauna, die bestimmt – so Gott es will – am Heizungsausfall Schuld hatte. Sünde. Böse. Pfui!
Den Namen kenne ich nur von den wenigsten Nachbarn in diesem Haus.
Es lebe die großstädtische Anonymität! Sogar eine Studie der TU Darmstadt belegt, dass nur jeder zweite Deutsche den Namen seines direkten Nachbarn kennt und nur 35 Prozent sich einen engeren Kontakt mit den Bewohnern nebenan wünschen. Und dennoch sind Nachbarschafts-Portale und Apps gerade mächtig auf dem Vormarsch, auch in der Singlehauptstadt München. Nebenan.de, Go Crush und Miduu heißen diese neuen Portale und wollen das machen, was davor auch irgendwie ohne lief: Menschen, die in der Nähe wohnen, zusammen bringen.
Während ich also mit höflicher Distanz meine Ruhe zu Hause wahre, sucht der Mann aus dem vierten Stock, der aussieht wie Peter Lustig, gerade online nach einem Joggingpartner und die junge Mutter aus dem 2. OG nach anderen Eltern in der Umgebung zum Spazierengehen.
Aktuell sind auf nebenan.de rund 57.000 MünchnerInnen online, die sich in 170 Nachbarschafts-Gruppen engagieren. Am aktivsten ist Schwabing mit 5.500 aktiven Nutzern, Sendling hat 1.700 User und Pasing 960.
Denn Nachbarschaft heißt auch:
Dass die Menschen, die direkt um einen herum in angrenzenden Wohnungen leben, hin und wieder aushelfen. Sie nehmen Pakete an, helfen sonntags mit Eiern aus oder lassen auch mal den Heizungsableser in die Wohnung. Nachbarschaft kann im besten Fall Hilfe in der Notsituation, Wahlfamilie oder sogar Freundschaft bedeuten.
Verstärkt wird das soziale Geflecht um die eigene Wohnung noch dadurch, dass Nachbarschaften heute stark sozial konstruiert sind. Wer wohnt bevorzugt im toleranten Glockenbach? Die Maxvorstadt ist immer noch die hippe Hochburg der Studenten? Unsere Nachbarschaft ist nicht mehr unbedingt die Zwangsgemeinschaft von früher. Heute suchen wir uns die Umgebung bewusst aus und zwar eine, die möglichst wenig Konfliktpotenzial birgt. Welche zukünftigen Nachbarn teilen wohl die gleichen Interessen? Haben ebenso Kinder oder einen ähnlichen Geschmack?
Dass in München auf Grund der hohen Mieten diese freie Wahl oft eingeschränkt ist, ist selbstredend, und dennoch ziehen Studenten eher in die Maxvorstadt und werdende Eltern (also die, die es sich leisten können) ins kinderreiche Haidhausen oder Neuhausen. Das Paradoxon lautet folgendermaßen: man will bezahlbar, ordentlich und sicher wohnen. Wenn dann die Nachbarschaft noch stimmt, ist das laut dem Stadtplaner und Soziologen Bernd Hunger zwar super, aber ein Zusatz-Zuckerl. Stimmt die Nachbarschaft allerdings nicht, ist es aber der entscheidende Grund nicht in diese Gegend zu ziehen.
Ganz abgesehen, dass sie darüber hinaus auch noch Einfluss auf unsere Schufa-Einträge nimmt, diese ominöse Nachbarschaft.
Grund genug sich für seine Nachbarschaft etwas mehr zu engagieren.
Und das machen mittlerweile immer mehr Münchner und melden sich bei Community-Apps und Portalen an. Der Trend ist dabei nicht ganz neu und kommt wie so oft mit nextdoor.com aus den USA. Seit 2011 haben sich zwischen San Franzisco und New York über 120.000 solcher Online-Nachbarschaften registriert. In München sind gerade die Portale miduu und nebenan.de sehr präsent.
Aber warum ist das so, weshalb gibt es wieder mehr Sinn für Nachbarschaft?
Ist es der Wunsch der Komplexität einer globalisierten Welt wieder etwas Konkretes entgegen zu setzten – etwas was vor der Haustür stattfindet? Oder ist es die Konsequenz, weil immer mehr Menschen vor ihren Bildschirmen bei maximaler digitaler Verbundenheit sozial vereinsamen?
Sei es drum, ich gieße nach wie vor gerne die Rosen meiner Nachbarin unter mir und leihe auch dem netten Menschen nebenan Stühle für seinen Besuch. Allerdings müssen sie mich dafür halt direkt fragen. Denn das schöne ist ja auch, unendlich viele Nachbarn mit unendlich vielen Wünschen habe ich nicht, ganz anders wie meine große digitale Nachbarschaft.
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Photo by Daniel Fazio on Unsplash