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Wie in München das deutsche Bike-Sharing erfunden wurde – und fast scheiterte

Christian Hogl hatte Glück. So richtig Glück. Als er Ende der 90er-Jahre als Informatikstudent voller Idealismus Deutschlands erstes Bike-Sharing-System in München auf den Markt brachte, fuhr er damit dennoch erst einmal gehörig gegen die Wand. Was damals prozesstechnisch noch zu umständlich war, sollte nur wenige Jahre später zum Vorzeigeprojekt für alternative Stadtmobilität und Free-Floating-Sharing-Systeme weltweit werden. Das bedeutet, dass das Rad oder auch Auto innerhalb eines fest definierten Nutzungsgebiets auf jedem freien Parkplatz abgestellt werden kann. Es ist die Geschichte von Call a Bike.

Alles eine Frage von Minuten

Die App auf meinem Handy zeigt zuverlässig an, wo ich auf das nächste Call-a-Bike-Fahrrad steigen kann. Alles eine Frage von Minuten, denn über die App bekomme ich den Code, mit dem sich das Schloss an dem silbernen Kasten seitlich am Rad öffnen lässt. Die acht Cent pro Minute  – maximal 15 Euro am Tag –  werden automatisch vom Konto abgebucht. Herrlich einfach ist die Bedienung der rund 1.500 Call-a-Bike-Leihfahrräder in München – und eine reine Wohltat für alle, die keine Lust auf überfüllte Öffis haben oder deren Drahtesel mal wieder streikt. 

Aller Anfang ist … analog

Was die Digitalisierung heute so einfach macht, lief in den Anfangsjahren von Call a Bike noch ganz anders ab: Die „Zeit“ lobte zwar in einem Artikel aus dem Jahr 2003 die „einfache Handhabe“ beim Ausleihen der Räder, darüber kann man heute jedoch wirklich nur schmunzeln. Jens Mühlhaus von Green City AG, der die Gründung von Call a Bike miterlebte, erinnert sich an die Anfangszeit: „Die hochwertigen Räder fand man damals hauptsächlich um magentafarbene oder gelbe Telefonzellen herum. Schließlich musste man eine Servicenummer anrufen, um einem Mitarbeiter des Call-Centers seine Kundennummer zu nennen. Erst dann bekam man den Öffnungscode für den kleinen silbernen Schließkasten an der Seite der Räder. Nach der Tour musste man den Schließcode ebenso an einer anderen Telefonzelle erfragen.“ Es war alles wahnsinnig umständlich. Klar, ein internetfähiges, preisgünstiges Handy hatte damals keiner. Aber genau das sollte nur wenige Jahre später Call a Bike gänzlich den Durchbruch bringen. 

Über Visionäre und die Denke von gestern

Christian Hogl engagierte sich damals ehrenamtlich bei Green City, jenem Verein, den eine bunte Mischung aus Ehrenamtlichen 1990 gründete, um den Autoverkehr drastisch zu reduzieren, das öffentliche Verkehrsnetz zu verbessern und mehr Geh- und Radwege einzurichten. „Alle einte die Idee, München etwas grüner zu machen und Radl-Demos zu veranstalten”, sagt Jens Mühlhaus.

In der Stadtpolitik stieß der noch junge Verein auf Unverständnis. Es war zwar die Zeit, in der die Grünen als Partei bereits im Stadtrat saßen, dennoch wollte man in München den Autos keinen Platz wegnehmen, das Stadtbild nicht verschandeln. Ein kleiner Fortschritt war da schon der Bau der ersten Fahrradwege an der Leopoldstraße.

Nach Hogls ursprünglicher Idee sollten die Share-Fahrräder an festen Standorten stehen (auch stationsbasiertes Sharing-System genannt), ähnlich wie die MVG-Räder heute. Damals jedoch: keine Chance. Erst dann entwickelte Hogl die Leihfahrrad-Idee, bei der man mit einer Chipkarte ausleihen sollte, zum Free-Floating-Sharing-System weiter. Ende der 90er-Jahre gründete Hogl also „Call a Bike” – heute würde man dazu ja Startup sagen.

Der findige Informatikstudent ließ sich den Algorithmus in dem kleinen Schließkästchen seitlich am Rad patentieren. Es ist die gleiche Technik, mit der heute weltweit auch die Car-Sharing-Systeme funktionieren. Eventuell ist dieses großartige Patent auch der Grund, warum Hogl für uns auch nach umfangreicher Recherche nicht zu kontaktieren war. Unendlicher Reichtum? Ein Leben auf einer einsamen Insel? Wir wissen es nicht. 

Eine Idee, die ihrer Zeit voraus war

Damals gelang es Hogl auf jeden Fall mit der tatkräftigen Unterstützung eines Managers, fünf Millionen Mark als Startkapital zu sammeln. Zahlreiche Bekannte und Freunde bei Green City unterstützten ihn auch mit privatem Geld. Knapp 2.000 hochwertige Call-a-Bike-Räder wurden im Gründungsjahr 2000 angeschafft und in der Stadt verteilt. Ein Call-Center wurde in der Innenstadt eingerichtet, für die Kunden kostenlos und stets erreichbar. Was sich bis dahin nach einem durchschlagenden Erfolg eines jungen Unternehmens anhört, war jedoch ziemlich schnell vorbei. Nach sechs Monaten war das gesammelte Geld weg, die Firma insolvent. Hogl sagte damals zur „Süddeutschen Zeitung“: „Wir waren viel zu billig, zwei Pfennig zahlten die Kunden damals für ein Fahrrad pro Minute.“ Die Herstellung der Fahrräder allein hatte über zwei Millionen Mark gekostet, das ständig besetzte Call-Center schluckte ebenso Unmengen. 

Im Rückblick

Aus heutiger Sicht betrachtet waren es wohl mehrere Faktoren, die Hogls Unternehmen scheitern ließen, dennoch war da diese zukunftsfähige Idee versteckt, in dem kleinen silbernen Kasten seitlich am Rad. Die Deutsche Bahn kaufte damals sein Unternehmen aus der Insolvenz auf und machte es zu dem, was wir heute kennen: ein dichtes Netz von insgesamt 15.000 Leihfahrrädern, die in rund 60 deutschen Städten zur Verfügung stehen. Die Räder der ersten Stunde übrigens mit eingerechnet. Allein in München gibt es laut der Deutschen Bahn 125.000 angemeldete NutzerInnen. 

Nach der Meinung von Florian Paul, Münchens erstem Radl-Beauftragten, ist das jedoch noch lange nicht genug. Etwa 30.000 bis 50.000 Leihfahrräder wären für gesamte Münchner Stadtgebiet  nötig, um eine Verkehrswende zu schaffen. Außerdem fehlt noch ein System, das auch außerhalb des Mittleren Rings funktioniert, für die Vororte Münchens. Die zahlreichen und billigen, gelben Leihfahrräder der chinesischen Firma Obike haben zwar auch genau dort angesetzt, allerdings mit zu schlechter Qualität und fehlender Öffentlichkeitsarbeit – mittlerweile ist die Firma bankrott und die meisten Räder wieder weg. Immerhin drängen jetzt mit Anbietern wie donkey republic oder Lasti-Bike immer mehr wertige Radl-Verleihsysteme auf den Markt. 

Doch Zeit wäre es für eine neue kleine Revolution. Denn – um mit einer Plattitüde aus dem Bereich Zukunftsvisionen zu schließen – nichts auf der Welt ist so mächtig wie eine Idee, deren Zeit gekommen ist. Auch wenn es manchmal eben ein wenig dauert.


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Redaktionelle Mitarbeit: Nik Gradl

Illustration: C100

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