Kultur, Nach(t)kritik

Wenn wir sterben – “Sacre du Printemps” gibt Nachhilfe in hygienischer Totenversorgung

Caroline Giles

Was passiert mit uns, wenn wir sterben? Also nicht mit unserer Seele – sondern mit unserem Körper, unserem Fleisch und Blut? Wie lange dauert es bis der Verwesungsprozess einsetzt, wir von Bakterien und Maden zerfressen werden, bis wir schließlich zu Erde werden – und nichts mehr von uns übrig bleibt? Zugegeben, darüber hatte ich mir zwar bisher noch keine Gedanken gemacht, aber glücklicherweise gibt das Regieprojekt “Le Sacre du Printemps” des zweiten Jahrgangs der Otto Falckenberg Schule (unter der Leitung von Kevin Barz) am Volkstheater Nachhilfe in hygienischer Totenversorgung. Über allem steht die Frage: wie kann man das Verwesen, das Verschwinden eines Lebens verhindern?

Nach der drückenden Hitze im Foyer des Volkstheaters ist die kühle Luft des kleinen Spielsaals zunächst eine Erleichterung. Leider hält dieses Gefühl jedoch nicht besonders lange an, denn kaum hat man den Raum betreten, bietet sich ein ziemlich bedrückender Anblick: Krankenhausbett, Obduktionstisch, Grabhügel – samt verwesendem Hasen. Kurz bevor das Stück beginnt, leuchtet an einer Wand des Saals ein Bildschirm auf. Darauf zu sehen, ist ein weiterer toter Cousin von Bugs Bunny, der langsam vor sich hin verrottet. Gleichzeitig ertönt – statt dem angekündigten Strawinsky – ein ziemlich nerviges, irritierendes weißes Rauschen, bevor ein Mann in weißer Hasenmaske die Bühne betritt. Hasen scheinen heute Abend schwer angesagt zu sein. Der Hasenmann (wohl der Tod in Hasengestalt) beginnt damit das Publikum zu inspizieren. Der Hase starrt uns an. Wir starren den Hasen an. Die Atmosphäre ist bedrückend aber auch unfreiwillig komisch. Als der maskierte Sensenmann schließlich sein Opfer (Hauptdarstellerin Maj-Britt Klenke) gefunden hat, beginnt – in Anlehnung an Strawinskys gleichnamiges Ballet – ein Tanz um Leben und Tod. Es kommt, wie es kommen muss: das Mädchen stirbt. Doch das ist erst der Anfang des Stücks.

Der Tod ist hier im Theater erst der Anfang

Die Zuschauer werden nun Zeuge, wie der Bestatter (Fabian Kulp) den Leichnam der jungen Frau herrichtet. Die Leiche durchläuft dabei, wie vermutet, alle drei Stationen der hygienischen Totenversorgung auf der Bühne: Krankenhausbett, Obduktionstisch, Grabhügel (samt totem Hasen). Dabei kommentiert die Tote selbst, was mit ihrem Körper geschieht und was der Bestatter unternehmen muss, um ihren Körper vor dem Verwesen zu bewahren und ihn noch ein klein wenig länger “lebendig” wirken zu lassen. Besonders eindrucksvoll sind hier neben den beiden Darstellern Kulp und Klenke, die auch unbekleidet auf dem Obduktionstisch souverän auftritt, die Übertragung der Obduktionsszenen auf die großen Bildschirme, welche sich eindrücklich mit Szenen echter Obduktionen vermischen. Das Stück nähert sich dabei dem Tabu des toten menschlichen Körpers in einer so unaufgeregten und intelligenten Art, dass es ohne Schockmomente und Splatter-Szenen auskommt. Untermalt von Strawinskys eindringlicher Komposition ergibt sich so eine beklemmende Studie darüber, was getan werden muss – aufschneiden, auspumpen, zunähen – um wenigstens den Anschein von Leben zu bewahren. Aber ob es das wirklich wert ist? Denn der Tod lässt sich zwar hinhalten, aber nicht überlisten.

Fotos: Benjamin Gerull

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