Kultur, Nach(t)kritik

(W)orten nachgehen durch die Münchner Nacht

Hörgang #5: München Mitte war diesmal der große Raum, in dem 25 Orte, von Sakristei bis Bunker, von Bestattungsinstitut bis Theatercafe, von Sporthalle bis Suppenküche belesen und besehen wurden. Zu jeder vollen Stunde am selben Ort mit anderem Wort, am anderen Ort mit selbem Wort oder komplett neu kombiniert. Gehen und hören auf einer literarTour durch die Nacht.

Wie also soll man sich aus einem spannenden, teils ungehörten, teils ungesehenen, interessanten Potpourri an Autoren und Orten für vier entscheiden, um sich den Abend möglichst schön zu gestalten? Häng ich mich an Worte ran und folge einem Autor durch die Stadt? Oder suche ich mir möglichst lesungsungewöhnliche, historische, sonst unzugängliche Orte, um den einzigartigen Charakter dieses Happenings auszureizen? Oder aber ändere ich mittendrin meine Richtung und lauf einfach mit gerade getroffenen Menschen mit, ein Blind-Date-Spaziergang sozusagen für die Dauer dieser Nacht?

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Als mucbook-Bloggerin war mein Startpunkt bei mucbook-Kolumnistin Jovana Reisinger auf der Empore der Damenstiftskirche geradezu obligatorisch vorherbestimmt! So steigt man auf, wo sonst „das Betreten nur mitwirkenden Sängern gestattet“ ist. Oben schafft die Organistin noch eine etwas kitschig-klischeehafte Kirchenatmosphäre. Dann wird der letzte Orgelton verhallend in der leeren Kirche von Jovanas weicher, ruhiger Stimme abgelöst, die uns eine etwas andere Predigt über Vergangenheit und Kindheitserinnerungen hält. Die Texte stammen aus ihrer Heimat-Kolumne aus der ersten und zweiten Ausgabe von mucbook Print, hier gelesen als Fortsetzungsgeschichte.

…während Jovana ihren Lesegang in der Hundskugel fortsetzt, geh ich nur eine Hausnummer weiter, in die Salvatorrealschule: Die Turnhalle soll es sein. Darin Bänke, Böcke und… ein Flügel?! Klar, die Orte werden heut Nacht ja aus ihrer alltäglichen Funktionalität gehoben und gleich werden hier noch die Münchner Philharmoniker den Raum auf seine Akustik testen. Nun ist aber erst noch Sportstunde mit Team Parsimonie: aufwärmen ist nicht, wir gehen in die Vollen mit drei Kurzgeschichten und imaginativer Kopfakrobatik vor dem inneren Augen. Draußen hört man die Kirchenglocken meines Vor-Ortes, drinnen hören wir mit nem Bier in der Hand…

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…und eben dieses führt mich zum nächsten Stop: der Hundskugel, Münchens ältester Gaststätte und Synonym für alkoholisch-kulinarische Gelage, ein Gasthaus mit Münchner Geschichte. Uns als Publikum fällt als erstes der Modezar mit seinem Hündchen ein, der einst für den Erhalt dieses Traditionsortes gekämpft hat. Für SZ-Redakteur und Streiflicht-/Glossen-/Essay-Autor Wolfgang Görl hat der Ort noch eine andere Erinnerung: drei Häuser weiter war einst sein Büro und der Radspieler gegenüber hat ebenfalls Verbindung zur Süddeutschen. Und welche Geschichte aus seinem Buch würde also besser hierher passen als eine Kneipengedächtnisgeschichte über den Biberbau und ein ehemaliges Streiflicht über die Kochsendungsmanie?

Auf den Straßen draußen mischen sich inzwischen nicht nur Hörgänger mit grauen Heftchen mit Musiknächtlern mit pinken Heftchen, jetzt kommen auch noch Fußballfans hinzu. Die Stadt-Mitte lebt!

…mein Geschichten-Spaziergangs-Ziel suche ich im „Studierzimmer“. Kein Mensch weiß, was dieser Ort außerhalb dieses Nacht-Zaubers ist, aber den Mensch, der uns hier eine kleine Vorlesung halten wird, kenne ich als Filmwissenschaftskommilitone und zumindest das übrige slamaffine Publikum als Rationalversammlung-PoetrySlam-Urgestein. Der kleine gepolsterte Raum platzt aus allen Nähten, wir hören noch ein bisschen Tina Turner in ihren besten kurzen Souljahren und dann is er da: Bumillo! Zwischen seinen Performances über Putzteufelleidenschaft und Mingationshintergrund bewirbt der frische Doktor der Philosophie nebst neuer EP auch seine Dissertation, wo sonst, wenn nicht an einem Ort, der sich “Studierzimmer” nennt. Mit 15min c.t., endet mein wunderbarer kontroverser Hörgang von Kirche über Saufeskapismuslegende bis fiktiv-Ort über dem Viktualienmarkt…
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Zur selben Zeit ist Maria Christoph über Stufen aus Polstern und vorbei an Särgen durch eine außergewöhnliche Nacht spaziert.

Für manch einen ist ein Ort mehr als vier Wände, mehr als ein Dach über dem Kopf oder Sachlager. Manch einer nennt ihn Zuhause. Und manchmal lagert tatsächlich etwas hinter jenen Türen: eine Geschichte, ein Leben oder eine Erinnerung an ganz vergessene Zeiten. Beim 5. Hörgang ging es um diese Besonderheit all jener Orte, welche Geschichte sie selbst, ihre Bewohner und Gäste zu erzählen haben. So dass auch mancher Münchner glaubte, dieses München jetzt erst von allen Seiten kennengelernt zu haben.

Der Viktualienmarkt. Selbstverständlich ein Touristenmagnet, bei Tag versteht sich. Ich kenne ihn seit meinem ersten München-Aufenthalt vor ein paar Jahren. Auch das Haus hier im Rosental ist mir längst bekannt. Was sich jedoch hinter seiner Fassade verbirgt, wirkt auf den ersten Blick ungewöhnlich. Das „Studierzimmer“ ist duster, schwarze Wände, eine lange ebenholzartige Tafel, ein Fenster durch das der schwarze Abendhimmel hineinfällt. Polster, Stufen, nein Stufen aus Polstern. Ein Sofazimmer quasi, in dem sich der Autor und seine Gäste zusammengefunden haben, um seiner Geschichte zu folgen. Helmut Krausser liest in seinem neuen Roman, schwelgt in Übersetzungen der shakespeareschen Sonette und lässt das Publikum für einen kurzen Augenblick die Welt aus seiner schnörkellos zynischen Perspektive betrachten. Betrachte ich diesen Raum noch etwas länger, bleibt mir nur zu fragen: „Was ist das hier im wahren Leben?“ – Na das ist das Geheimnis des Gastgebers – wird geantwortet!

Nicht nur private Räume erzählen Geschichten. Es gibt auch Orte, die die Geschichten vieler unterschiedlicher Menschen zugleich erzählen. Nicht allzu selten sind es all jene, die den ein oder anderen durchgezechten Abend hinter seinen Türen verschließen. Die seine Besucher am nächsten Tag unter altbekanntem Gedächtnisverlust leiden lassen bis sie sich gar schämen, ihre noch schwankenden Körper ins Büro des Chefs zu setzen. Wolfgang Görl weiß wovon ich spreche. Der Lokalredakteur der Süddeutschen ist schon lange im Journalismus-Geschäft. Seine Reportagen, Streiflichter und Kolumnen leben von solchen Orten. Von Orten, die in der Erinnerung der Menschen bleiben – oder eben auch nicht. Münchens älteste Kneipe, in einer schmalen Gasse zwischen Damenstiftkirche und Sendlinger Tor, ist ein solcher Ort, dessen viele Geschichten in jedem Winkel noch heute aufgeklaubt werden können. hörort4

Eingang Städtisches Bestattungsinstitut. Na wer hat sich denn diesen Scherz erlaubt. Zwischen Särgen und Steinmauern entlang, hin zu einem schlecht beleuchtet, schummrig schönen Innengarten. Lektorin dieser neuen Runde: Adriane von Schirach, Philosophin, Philanthropin und Freundin des lila Jogginganzugträgers – dem Tod. „Du sollst nicht funktionieren“ heißt ihr im Februar erschienenes Werk, gelenkt durch diesen seltsamen, Reality-TV-konsumierenden knöchrigen Wegbegleiter mit der immer gleichen Frage: „Warum lebst du?“ Warum eigentlich? In Kombination mit Efeuranken und Kerzenschein fangen auch die Zuhörer in der letzten Reihe an, mit ihren Gedanken aus dem irdischen Dasein abzuschweifen – hin zu Konsumgesellschaft, Ratgebertum und dem vorgezogenen Jenseits des neuen, heuchlerischen Hobby-Veganismus.

Zum Schluss – mit den Gedanken wieder ganz bei mir allein – lockt es die meisten anderen und mich noch zu einem ganz anderen Ort. Mein geschnürtes Päckchen an unnötigen Gedanken und Ärgernissen des Tages kann ich getrost davor abstellen. An der Bar wartet schon ein kühles Erfrischungsgetränk auf mich. Bis ich schließlich zu später Stunde an den liebsten aller meiner Orte zurückkehre: Mein Schlafgemach, wie hab ich dich vermisst!

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