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Anarcho-Humor made in Schwabing: Die „Igitte“ ist Münchens abgefahrenstes Kunstheft!
Echte Typen sind rar in München. Echte Typinnen vielleicht sogar noch rarer. Sie geben der sonst so gleichförmigen, anonymen Menschenmasse der Großstadt ein Gesicht – oft sogar eines, das dieser Masse ganz und gar nicht ähnlich ist. In diese überschaubare, aber illustre Reihe passen auch die beiden Zwillingsschwestern Yvonne und Susy Klos.
Seit knapp elf Jahren veröffentlichen sie das Karikatur- und Kunstblatt „Igitte“ im Eigenvertrieb: ein „trashig collagiertes Heft“ irgendwo zwischen Kunst, Karikatur, Humor und Wahnsinn (esel.at). Künstlerinnen sind sie schon bedeutend länger – dazu sind sie vermutlich einfach geboren. Wir haben die beiden auf ein Bier in ihrem Stammlokal getroffen.
Igitte statt Brigitte: Münchens schrägste Illustrierte
Mit dem Attribut „Narrenfreiheit“ ist der Spirit der Igitte vorerst vielleicht ganz gut beschrieben. Der Stil des Blatts ist kritzelig, kunterbunt und wild – dionysisch, könnte man hochgestochen sagen. Alles, was nicht bei drei auf den Bäumen ist, wird darin durch den Kakao gezogen: ganz besonders gerne Sebstoptimierungs-Bullshit, hohle Werbeversprechen oder Politiker. Manchmal ist es auch einfach etwas Gaga oder Dada. Den Blick auf die Igitte wirft man deshalb also am besten mit einem großen Augenzwinkern.
Humor als mentale Hygiene
Ihre unbekümmert-spöttische Art von Humor ist eine Form der mentalen Hygiene, erklärt mir die brünette Yvonne dazu beim gemeinsamen Treffen im Café Bellevue am Nordbad: „Wenn man alles, was einen irgendwie ärgert, künstlerisch verarbeitet, dann ist das ja praktisch schon wieder eine Umleitung, die gleichgestellt ist mit so einer Achtsamkeits-Meditation. Das hat die gleiche Wirkung: es geht einem besser!“.
Insofern sie nicht gerade am Heft arbeiten, kann man Susy und Yvonne spätnachmittags relativ wahrscheinlich hier in ihrem Stammlokal antreffen, fußläufig von ihrer Wohnung in der Schleißheimer Straße entfernt. Der frisch renovierte, zeitgenössische Laden, der vom Interieur her nicht zwingend zum Stil der Igitte passt, unterstützt seine beiden Stammgäste bei Gelegenheit, verrät Yvonne: „Der Laden ist zwar teurer geworden, aber ich komme irgendwie nicht los davon. Die unterstützen uns auch mit unserem Heft. Also nicht jedes Mal, aber manchmal. Wir haben hier auch schon Auftritte gehabt.“
In der Regel trinken sie dort Bier – sowas wie der Igitte-Zaubertrank. Laut der Facebook-Seite der Tomatolocos Igittesisters gilt in diesem Zusammenhang folgendes Gesetz: „Gastronomische Wahrscheinlichkeitstheorie: in 99 Prozent aller Fälle trinken die igittetomaten ohnehin ein bier“. Die Bedienung erkennt ihre Stammgäste auch sofort und bringt uns nach kurzer Gegenfrage drei „Hellinger“, wie das unter den Geschwistern heisst. Angestoßen wird mit einem für Außenstehende eher schwer verständlichen, Mantra-ähnlichen Ritus, der mehrmals wiederholt wird: ich verstehe irgendwas von „Weg die Bowle. Wumm! Da kommt’s ja schon“. Die Gläser werden dabei geschwenkt. Prost auch…
Anti-Aggressionstraining für Polizisten
Mantras haben sie viele, für alle möglichen Sachen. Auch ein Anti-Aggressionstraining für Polizisten hätten sie in dem Zusammenhang konzipiert. Bei einigen Performances kam das sehr gut an, ein echter Polizist hat sich indes leider noch nicht gemeldet, fügen sie vergnügt hinzu. „Nötig haben sie’s ja manchmal, wenn man sich anschaut, was in letzter Zeit wieder so passiert ist. Es ist zwar Satire bei uns, aber irgendwie hat es ja auch einen ernsten Kern. Im Osten, wo die Bullen gemeinsam mit den Nazis ein Asylheim gedisst haben…“.
Art-Projekt Tomatoloco
Performances sind dabei ein weiterer Pfeiler des Projekts „Tomatoloco Sisters“. Tomatowas? Mir wird das anhand einer Analogie erklärt: „Tomatoloco ist der Oberbegriff von Igitte. Das ist wie der DFB und der FC Bayern: Der DFB ist oben und der FC Bayern ist ein Teil davon. Tomatoloco ist alles, das sind auch Bilder oder Events und Lesungen. Aber Igitte ist das Heft und das ist natürlich der Kern.“
Mit den Tomaten scheint es jedenfalls auch irgendwas auf sich zu haben. Wie eine royale Insignie trägt Yvonne eine aus Ton hergestellte und rot-grün bepinselte Tomate um den Hals: eine Insignie des Anarcho-Humors, die sie stolz zur Schau trägt. Die Tomate verleiht dem Träger oder der Trägerin übersinnliche Witzpower, sie hat dann die Macht, sich über alles und jeden lustig zu machen. So oder so ähnlich muss es wohl sein, denke ich mir. Jedenfalls taucht das rote Fallobst regelmäßig im Zusammenhang mit ihren Bildern und Projekten auf – angefangen beim Namen.
Humor als Kunst, gepflegtes Chaos mit System
Ob sie sich eher als Künstlerinnen oder als Komikerinnen sehen? Beides: „Humorkünstler“ sagt Yvonne dazu. „Multimedial aber auch! Vor allem in Zeichnung und Performance. Ein bisschen auch Musik und Malerei. Bei den Shows ist schon immer Gesang dabei“.
Blättert man durch die alle zwei Monate erscheinenden Ausgaben der Hefte, so scheint ein nachvollziehbarer Sinn der Karikaturen und Zeichnungen teils im Wirrwarr der wilden Form verloren zu gehen. Das kann man unter künstlerischer Freiheit verbuchen. Vielleicht muss man es sogar, um Gefallen daran zu finden. Dass manche Pointe eher flach daher kommt oder sich in einfachen Wortspielen und Assoziationen erschöpft, ist womöglich auch ein schelmischer Akt. Die Karikatur der Karikatur sozusagen. Wenn man sich die beiden bei der Konzeption ihrer Zeichnungen vorstellt – mit diebischer Freude am Schalk – dann muss man dabei sogleich wieder schmunzeln.
Ein gemeinsames Zick-Zack
Im Gespräch bilden beide eine Einheit mit Arbeitsteilung. Yvonne ist das Sprachrohr: offen, extrovertiert, vergnügt. Laut Selbstbeschreibung ist sie die “Ratschige”, die immer ihren Senf dazugeben muss. Die blonde Susy dagegen ist etwas stiller und bringt sich oft eher bestätigend und ergänzend ein, zumindest an diesem Nachmittag. Inhaltlich sind sie dagegen meist auf gemeinsamer Linie. Wobei es ein gemeinsames „Zick-Zack“ eher trifft.
Manchmal muss man wirklich aufpassen, um folgen zu können. Sprunghafte Kreativität, das Unbändig-Chaotische und eine gewisse Verspultheit durchzieht jede Äußerung und Regung der Igitte-Macherinnen.
Ob sie gerne schwer zu erfassen sind, will ich wissen und ob man sich durch diesen Habitus auch ein wenig immun macht? „Mir ist das Wurscht“ heißt es dazu von Yvonne. „Wir sind zwar gern schwer zu erfassen, aber unsere Schwachpunkte kennen die Leute, die uns gut kennen, schon. Und das macht aber nix. Wir haben lange Freundschaften und lange Fanschaften. Und lange Gemeinsamkeiten.“
Wurzeln im Punk
Geboren sind sie ursprünglich in Mannheim, dann aber im frühen Kindesalter mit ihrer Familie nach München übersiedelt. In den 80er Jahren waren sie in der hiesigen Punk-Szene unterwegs und kennen einige der übrig gebliebenen Protagonisten von damals noch.
Und jetzt also Kunst. Und viel Sinn für Trash und Humor – vielleicht ist das in Teilen ebenfalls der Punk-Sozialisation geschuldet. Jedenfalls ist das Zine ganz in der DIY-Tradition der Punk-Kultur gehalten und publiziert. Dass die Igitte aussieht, „als hätte sie ein 14-Jähriger Teenager gemacht“ ist natürlich Absicht, versichert Yvonne. Das Akkurate scheint auch einfach nicht ihr Fall zu sein, was auch in den schlechten Leistungen während einer Ausbildung zum Designer erkennbar wurde: “Auf der Schule hatte ich halt grottenschlechte Leistungen und habe sie mit Müh und Not bestanden. Aber weisst du, es war halt damals noch altmodische Technik. Das war damals noch sehr altmodisch, noch kaum mit Computer. Es ist ja auch schon eine Weile her. Was das für ein Stress war mit Zirkel und Lineal.”. “Boah…” schnauft Susy nur, sich kurz erinnernd.
Nächstes Learning aus dem Gespräch: „Wenn Maschinen wie Menschen sind… dann haben sie auch Sex!“ (beide sprechen laut mit). So lautet das Motto der aktuellen Performance, die kürzlich im „Weltraum“ gezeigt wurde, einer kleinen Galerie zwischen Isartor und Gärtnerplatz.
Im Publikum wähnen die beiden bei solchen Auftritten viele Künstler und auch Gastroleute, die oft zugleich zu ihren Gönnern und Freunden gehören. Das Café Kosmos zahle gut für Anzeigen im Heft. Hubert Kretschmer vom Archiv Artist Publications ist ebenfalls ein treuer Sammler, Mentor und sowas wie ein “zweiter Vater”. Zu Institutionen wie den Kunstarkaden und zu Dozenten und (Ex-)Studenten der AdbK bestehen freundschaftliche Beziehungen.
Existenz als Künstlerinnen in München
Einfach gestaltet sich die Künstlerinnen-Existenz trotz persönlichem Netzwerk in München aber dennoch keineswegs. „Wir suchen immer noch unglaublich dringend einen Raum, aber es ist halt teuer und wir haben auch nicht viel Kohle. Im Moment arbeitet die Igitte dahoam.“ Ein eigenes Atelier wäre also ein Traum: „Es müsste ein heller Raum sein. Durchaus mit jemandem teilbar. Aber es darf halt wirklich nicht so viel kosten. Das hört man wahrscheinlich tausend mal, weil es so vielen Leuten so geht.“ setzt Yvonne nach.
Inspiration? – Augen auf und Igitte!
Ganz wichtige Frage natürlich noch: woher nehmen die beiden eigentlich immer ihre Themen und Inspirationen? Wieder Yvonne: „Die springen einen doch überall an! Ob das jetzt einfach an der Bushaltestelle die Werbeanzeige ist oder ob man Nachrichten schaut in der Glotze. Oder ob man Zeitung liest oder wo auch immer: Augen auf und Igitte!“
Unser Treffen ist vorbei und ich bleibe doch ein wenig ratlos zurück. Ich habe mich selten mit so eigenen Menschen im Doppelpack so lange und intensiv unterhalten. Ich bin auch etwas erstaunt darüber, dass es für die beiden offenbar gut möglich ist, hier in München zu (über-)leben, sei es aus ökonomischen, sozialen oder künstlerisch-kreativen Gründen, die allesamt dagegen sprechen könnten. Der Zusammenhalt der beiden und die jahrzehntelange Co-Konstitution als Künstler-Duo mag dabei entscheidend sein.
Als Tomatoloco Sisters sind sie jedenfalls eine der schönen und außergewöhnlichen Launen dieser Stadt.
Die Fotos der Igitte-Ausgaben erscheinen mit freundlicher Genehmigung von Archive Artist Publication. Alle Rechte sind vorbehalten.
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