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Blaue Räder für eine grüne Stadt – E-Lastenrad-Sharing in München

Valerie Schuiling

740 000. So viele PKWs gibt es in München ungefähr. Tendenz steigend. Der ÖPNV ist ausbaufähig und Parkplätze in der Stadt sind fast so unmöglich zu finden wie ein Sitzplatz im Zug nach Einführung des 9€-Tickets. Der Weg zu grüner Mobilität oder vielleicht sogar autofreien Innenstädten ist also noch weit. Zu groß scheint die Hürde: Denn was macht man, wenn man den Wocheneinkauf für die Familie transportieren muss? Wie kommen Lukas und Anna zur Kita, die Monstera samt Topf in die Wohnung? Mein Fahrradkorb ist ja schon beim Ein-Personen-Einkauf überlastet.

Wer auf Öffis, Auto und Co. verzichten will kann auf Lastenräder umsteigen. In den Niederlanden sieht man sie oft auf den Straßen, die Fährräder mit den großen Kästen vorne, jetzt kommen sie auch immer mehr nach Deutschland. Allerdings sind Lastenräder teuer, schwer lieferbar, der Platz in der Stadt dafür rar gesät und wer einen Elektromotor am Fahrrad hat, muss sich vor Diebstahl in Acht nehmen. Warum also nicht Lastenrad-Sharing? Avocargo ist eine der Firmen in München, die E-Lastenrad-Sharing nach dem Free-Floating Modell anbietet, das heißt die Fahrräder können überall einfach abgestellt werden. Mit heute rund 10.000 Kund*innen gibt es die Firma bereits seit Frühjahr 2021 in Berlin und seit Mitte Juni nun auch in München. Wir haben uns das mal genauer angeschaut und erzählen euch von unseren Erkenntnissen.

Das Avocargo – ein Selbstversuch

Der erste Schritt in unserem Avocargo-journey ist das Downloaden der App: Registrierung klappt so weit so gut und auch Abstellbereiche in der App sind relativ selbsterklärend. Die Räder könnt ihr entweder in der App auswählen oder vor Ort mit einem QR-Code scannen. Dann seht ihr Namen – ich bin heute mit Ivo unterwegs – und Ladestand, könnt es mieten oder erstmal für 15 Minuten reservieren. Wer nicht aufpasst, dem wird das Fahrrad nämlich einfach vor der Nase weggeschnappt. Beim Mieten des Fahrrads springt einem das Schloss dann quasi entgegen, also nicht erschrecken – Ivo will einfach nur so schnell es geht losfahren. Vor der Fahrt können am Bordcomputer die Unterstützungsstufen des E-Motors eingestellt werden und nach Lösen der Feststellbremse am Lenkrad geht es auch schon los.

Wer zum ersten Mal mit einem Lastenrad unterwegs ist, der muss buchstäblich erstmal den Dreh rauskriegen. Der Wendekreis ist ganz anders als gewohnt, um die Kurve geht es also erstmal langsam und gemütlich. Mein Fehler war es, meine erste Fahrt am Rindermarkt zu starten, wer hier meint in einer Einbahnstraße mal schnell umzudrehen und sich an den Autos vorbeizuschlängeln zu können, liegt auf jeden Fall falsch. Allzu hohe Bordsteinkanten, enge Straßen und kleine Fahrradwege sind nicht der beste Freund des Lastenfahrrads.

Ich mache mich auf Richtung Haidhausen, lande natürlich sofort in der Baustelle am Isartor und fahre dann den Hügel am Gasteig hoch. Nicht sehr anfängertaugliches Terrain, wie ich aus Erfahrung berichten kann. Sobald ich aber in ruhigeren Straßen unterwegs bin ist das Radeln entspannt und mit dem E-Motor genauso wie ich es am liebsten habe – wenig Beinarbeit und trotzdem viele schöne Aussichten. Meine Fracht – ca. 30 unserer neuen MUCBOOKs – vor mir habe ich immer gut im Blick. Wer also seinen Hund von A nach B, die Tüten voll frischem Gemüse vom Supermarkt zu sich nach Hause oder den Bierkasten an die Isar transportieren will, wird auf ruhigen Straßen gar ein Problem haben. Auch für Kinder ist das ganze durch die Sitzbänke in der Box sicher ein Heidenspaß. Die Shoppingtaschen über den Stachus zu transportieren ist dann doch etwas stressiger und wahrscheinlich erst das nächste Level in der Lastenrad-experience.

Ich lege ein paar kurze Stopps zum Verteilen unserer MUCBOOKs ein – da kann man das Fahrrad praktischerweise einfach kurz sperren – bevor ich es endgültig abstelle.  Dabei müsst ihr nicht nur das Schloss schließen, sondern auch den Hebel auf der anderen Seite herunterdrücken. Die App erinnert einen daran allerdings auch. Wem das Fahrrad wegrollt, der kann die (vielleicht auf den ersten Blick etwas gewöhnungsbedürftige) Feststellbremse verwenden. Nach beenden der Miete wird das Fahrrad an einem Pfahl angekettet, normale Fahrradständer sind bei den zwei Rädern vorne nicht zu benutzen. Dann noch ein Foto machen und fertig ist die erste Avocargo-Fahrt! Das Ganze kostet pro Viertelstunde 1,90€ (plus 1€ Startgebühr), für meine zweieinhalb Stunden habe ich also ca. 20€ bezahlt. Wer länger fährt, bekommt automatisch billigere Tarife, sodass ein Tag höchstens 30€ kostet.

Eine Stadt ohne Autos, das will doch sowieso niemand oder?

Falls die Fahrt nicht ganz so reibungslos verläuft, gibt es einen 24h-Kundendienst und Mechaniker, die innerhalb kurzer Zeit zu euch kommen können. Im Herbst sollen außerdem die Fahrräder der zweiten Generation nach München kommen, mit leichterer Lenkung und etwas anderer Transportbox. Bis jetzt gibt es 48 Avocargos in München, mit der Zeit sollen es mehr werden. „Das Ziel ist es natürlich, das Auto aus der Innenstadt zu verbannen“, sagt Matthew Wurtz-Kiplinger. Er ist Marketing Manager in München für Avocargo. Sein Ziel scheint, laut einer Studie im letzten Jahr, bei der Münchner Bevölkerung gar nicht so unbeliebt zu sein. Dort gaben 65% der Befragten an für eine autofreie Innenstadt zu sein, 19% davon stimmen dem nur zu, falls Anwohner*innen weiterhin in die Innenstadt fahren dürften. Die Öffentlichen und das Fahrrad bringen einen sowieso überall hin. „Und wer schwere Last transportieren muss, der kann einfach ein Avocargo nehmen“, so Matthew. Offiziell dürfen 100kg transportiert werden, also ein Durchschnitts-Mann mit kleinem Hund am Schoß. Matthew habe da aber schon ein paar mehr Personen damit transportiert.

Avocargo der 2. Generation

Das Rad kann auch für längere Zeit reserviert, Abos abgeschlossen oder kommerziell genutzt werden. „Wir haben eine Kaffeerösterei in Berlin, die damit regelmäßig ausliefert. Foodspring hat das Rad für die Pride-Parade dieses Jahr genutzt. Und wir haben Partnerschaften mit z.B. der BIO COMPANY in Berlin.“ Wer dort für einen bestimmten Mindestbetrag einkauft, bekommt Fahrzeit guteschrieben.

„Der Bayer muss sich das erstmal anschauen“

In München wird bis jetzt noch nach Partnerschaften gesucht, im Norden ist das Fahrrad schon ein voller Erfolg. Die Kundschaft allerdings ist ganz anders. „Berlin ist eine viel politischere Stadt, Fahrrad fahren viele aus Überzeugung und für die Umwelt. Der Bayer ist da anders, der muss sich das erstmal anschauen“, erzählt mir Matthew vom ersten Beginn in München. Es habe erst Zeit gebraucht, bis sich Leute registriert haben und Kundschaft aufgebaut wurde. „Aber München ist die perfekte Stadt für das Lastenrad, alles ist dicht beieinander, das Leben ist gedrosselter.“

München als neue Lastenrad-Stadt?

Auch andere Lastenrad-Sharing-Dienste gibt es in München: Sigo zum Beispiel. Im Gegensatz zum Avocargo, kann das Fahrrad nicht einfach irgendwo wieder abgestellt werden, sondern muss zu einer Ladestation zurück. Allerdings sind erst zwei Velohubs in München vorhanden. Das Sigo-Bike besitzt zwei Räder mit Korb, kippt beim Stehenbleiben also eventuell leichter um. Dafür ist es zum anfänglichen Fahren weniger ungewohnt und wendiger. Letztendlich ist es aber wohl einfach Gewöhnungssache.

Lastenräder von Sigo

Lastenräder in verschiedensten Größen – sogar eine fahrbare Lastenrad-Bühne mit ca. fünfzehn (!) Rädern – gibt es bei Freie Lastenradl in München. Die Zwei- und Dreiräder stehen allen kostenfrei zur Verfügung, müssen nur zuvor für einen bestimmten Tag gemietet werden. Anschließend holt ihr sie bei Green City e.V., einer Stadtbibliothek oder dem entsprechenden Standort ab und gebt sie dort nach Ablauf eurer Miete zurück. In München wird Lastenrad-technisch also mehr und mehr geboten. Und auch die Zukunft fürs Lastenrad sieht gut aus. Mit wachsenden Nutzerzahlen stellt es die Weichen für eine umweltfreundlichen Verkehr in der Stadt, falls dadurch die ein oder andere Autofahrt vermieden wird.

Wir freuen uns auf jeden Fall, dass unsere Stadt ein bisschen grüner wird, und machen uns dann mal mit ein paar kühlen Kästen Bier, Grill und Picknickdecke auf an die Isar. Dem Transport steht mit unserem neunen Lastenrad ja nichts mehr im Wege.


Quellen: Anzahl PKWs München, muenchen.de

Bild Avocargo der 2. Generation: © Avocargo; Beitragsbild, Avocargo & Sigo: ©Valerie Schuiling

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