377. Inside India’s Queer Community Cover ©Gina Bolle
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Crowdfunding: Queere Begegnungen mit Indien (Interview)

Wie verändert sich queeres Leben, wenn es plötzlich legal ist? Dieser Frage sind vier Münchner Journalist*innen und Fotograf*innen Ende 2019 nachgegangen und in Eigenregie nach Indien gereist. Im zweitgrößten Land der Welt war Homosexualität bis vor kurzem noch per Gesetz strafbar. Auch wenn der entsprechende Paragraf, der lange Haftstrafen beinhaltete, zunehmend seltener angewendet wurde. 

Aus den vielen Begegnungen, Gesprächen und Aufnahmen dieser Recherche-Reise haben sie jetzt einen eindrucksvollen Bild- und Textband collagiert, der 25 Personen in ihrer queeren Lebenswelt portraitiert. Gezeigt wird ein Ort, wo die LGBTIQ-Community ein Gesicht bekommt, wo Menschen es nun wagen, offen zu sich selbst zu stehen und zu lieben, wie sie es wollen.

Mit den Fotograf*innen Gina Bolle und Francesco Giordano sprachen wir über ihr ambitioniertes Herzensprojekt, das einen neuen Blick auf das vielsprachige Land wirft.

“Mehr als 150 Jahre wurde (…) Homosexualität zur Straftat gemacht.”

Hallo Francesco, hallo Gina, ihr habt zusammen mit zwei Freundinnen das Projekt „377. Inside India’s Queer Community“ ins Leben gerufen. Wie kam euch die Idee dazu?

Francesco: Wir haben 2019 zusammen mit einem Team von Fotograf:innen und Journalist:innen das Magazin Rainbow Refugees (Stories) veröffentlicht. Darin geht es um geflüchtete Menschen aus der LGBTIQ-Community aus aller Welt, die aufgrund ihrer sexuellen Orientierung und Identität ihre Herkunftsländer verlassen mussten und nun in Deutschland leben. Zwei Jahre vorher war ich mit meinem Partner im Sommerurlaub in Südspanien. Dort habe ich ein Paar aus Indien kennengelernt, das mir vom homofeindlichen Paragraphen erzählt hat, der erst 2018 abgeschafft worden ist. Mehr als 150 Jahre wurde dadurch gleichgeschlechtlicher Sex verboten und Homosexualität per Gesetz zur Straftat gemacht. Zusammen mit Gina, Maria Christoph und Stefanie Witterauf sind wir dann Ende 2019 nach Indien gereist, um uns die Situation vor Ort anzuschauen. Entstanden ist unser Projekt 377. Inside India’s Queer Community. 

Hat die Abschaffung des Paragraphen eurem Eindruck nach den Alltag der LGBTIQ-Community dort spürbar besser gemacht?

Gina: Es ist wichtig zu erwähnen, dass wir in den vier größeren Städten in Indien, also in Mumbai, Chennai, Kalkutta und Neu-Delhi unterwegs waren. Wir waren nicht auf dem Land, wo die Situation nochmal eine ganz andere ist, laut Erzählungen unserer Protagonist:innen. Viele der Menschen, die wir in diesen Städten getroffen und kennengelernt haben, stehen offen zu ihrer Sexualität und fühlen sich im Alltag sicherer, seit der Paragraph abgeschafft worden ist. Vikram Aditya Sahai zum Beispiel, die* wir in Neu-Delhi getroffen haben, erzählte von häufigen Übergriffen der Polizei, wenn sie* nachts in Sari gekleidet unterwegs war. Die Polizei hatte sie* wegen des Verdachts auf Sexarbeit festgenommen und verhört. Seit der Abschaffung des Paragraphen kann die Polizei sie* aufgrund solcher Vorwürfe nicht mehr verhaften.

Ist es euch leicht gefallen, Zugang zur Community zu finden und Vertrauen zu den portraitierten Personen aufzubauen? War es dafür relevant, ob ihr selbst Teil der LGBTIQ-Community seid?

Francesco: Ich finde schon! Viele wichtige Kontakte haben wir schon im Voraus über Facebook-Gruppen wie „Gay Bombay“, „1 Million LGBTQ Indians“ und „Kolkata Rainbow Pride Festival“ knüpfen können. Ich denke schon, dass es ein Vorteil war, dass ich Teil der LGBTIQ-Community bin und wir haben bei unseren Treffen großes Vertrauen genossen. Ein Beispiel ist unser erster Kontakt in Mumbai. Gleich nach unserer Ankunft haben wir Johann Arora kennengelernt. Ich hatte mit ihm schon eine Weile gechattet und für uns eine Yoga-Stunde gebucht. Wir haben mit Johann den ganzen Tag verbracht, gemeinsam südindische Dosa-Gerichte gegessen und ihm von unserem Projekt erzählt. Davon war er begeistert und hat uns weitere Kontakte in Mumbai vermittelt. 

„Being queer in India means being part of a large minority“ heißt es im Trailer zu eurer Crowdfunding-Kampagne von einem Protagonisten. Habt ihr persönlich dort Diskriminierungen queerer Personen miterlebt?

Gina: Die Menschen in Indien sind unseren Protagonist:innen und uns während unseren Gesprächen mit Respekt begegnet. Dennoch haben wir schon gespürt, dass die Diskriminierung, wie etwa durch abschätzige Blicke, allgegenwärtig ist. Zum Beispiel als wir Kavya Jaiswal in einem Café im angesagten Viertel Bandra West von Mumbai getroffen haben. Kavya ist eine Transfrau mit selbstbewusster Stimme, die gerne farbenfrohe Kleidung trägt. In dem Café fingen die Servicemitarbeiter:innen hinter ihrem Rücken an zu starren und zu tuscheln. Kavya ließ sich davon allerdings nicht beirren.

Was hat euch am meisten beeindruckt bei eurem Aufenthalt?

Gina: Ich bin von dem Mut beeindruckt, den viele aufbringen, sich gegen eine eher konservative Gesellschaft zu stellen, Dinge zu verändern und für sich selbst einstehen zu wollen. Wie Ganesh Acharya, der als Jugendlicher mit HIV infiziert wurde. Damals wurde ihm die Behandlung verwehrt, weil er schwul ist. Heute leitet er eine Klinik für queere Menschen in Mumbai, die auf HIV-Behandlungen spezialisiert ist und kostenlose Tests anbietet. Oder eine Frauenrechtsbewegung, die sich in Kalkutta nachts an einer viel befahrenen Straße zu einer friedlichen Demonstration getroffen hat, um für mehr Freiheit ohne Angst zu plädieren. 

Francesco: Mich hat vor allem der Einsatz der jüngeren LGBTIQ-Generation beeindruckt, wie es uns zum Beispiel Reyansh Naarang und Sandhra Sur aus Delhi deutlich gemacht haben. Ich habe richtig gespürt, dass der Wunsch nach weiterer Veränderung bei ihnen besteht und sie auch mit vollem Einsatz dafür kämpfen: Für mehr Gleichberechtigung, für Schutzräume in Universitäten, für die Ehe für Alle und gegen die Diskriminierung von Transgender-Personen und die Stigmatisierung von HIV-Positiven.

Nun sind wir seit einem Jahr etwa in verschiedenen Phasen des Shutdowns und der Ausgangsbeschränkungen. Wie blickt ihr vor dem aktuellen Hintergrund auf eure Reise 2019 zurück? Habt ihr noch Kontakt nach Indien?

Francesco: Wir waren drei Monate vor dem Ausbruch der Pandemie in Indien. In einem Land, in dem 1,3 Milliarden Menschen leben, Abstand zu halten ist ein Ding der Unmöglichkeit. Ich schreibe regelmäßig den Menschen, die wir kennengelernt haben, wie es ihnen geht und wir tauschen uns über die COVID-Lage aus, so wie ich es mit meinen Freund:innen hier auch mache: Job, Finanzen, Gesundheit und Reisen. Neha Nath aus Mumbai hat mir geschrieben, dass es dort langsam wieder in die Normalität zurückkehrt, Geschäfte und Restaurants offen haben und Menschen in den Straßen unterwegs sind. Impfungen gibt es in Indien noch nicht. Über die globale Ungerechtigkeit sprechen wir offen.

Wenn ihr die Gruppe der Portraitierten aus Indien nun nach München einladen dürftet – sagen wir mal in Post-Corona-Zeiten: Wo führt ihr sie zuerst hin?

Gina: Was für eine schöne Vorstellung! Erstmal ab an die Isar für einen schönen langen Spaziergang vom Flaucher bis nach Pullach. Und dann natürlich in einen Biergarten.

Gute Nachrichten zum Schluss: Die erste Hürde eures Crowdfundings ist bereits geschafft. Was passiert, wenn ihr die volle Summe einsammelt?

Francesco: Wir freuen uns sehr und sind unseren Unterstützer:innen dankbar, weil mit ihrer Hilfe der Realisierung unseres Fotobuchs nichts mehr im Wege steht. Wir wollen unseren Protagonist:innen Exemplare nach Indien schicken und mit dem zweiten Fundingziel LGBTIQ-Vereinen in Indien Geld spenden, um sie finanziell bei ihrer wichtigen Aufklärungsarbeit zu unterstützen. Außerdem wollen wir uns beim Grafikdesigner Quirin Vodermayer revanchieren, der uns ehrenamtlich bei der Gestaltung unterstützt hat und viele Stunden Arbeit in das Projekt gesteckt hat. Dafür möchten wir uns an dieser Stelle auch nochmal bedanken!


Hier könnt ihr das Crowdfunding von Francesco, Gina, Maria und Stefanie direkt unterstützen und euch den Fotoband oder Postkarten als Dankeschön sichern.

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Beitragsbild © Gina Bolle, Restliche Bilder siehe Vermerk;

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