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Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral

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rsys_36349_514c941e097a9Die Bayerische Staatsoper ersetzte die seit fast 50 Jahren gespielte und von Jung und Alt geliebte List-Inszenierung des Opern-Klassikers Hänsel und Gretel durch eine, zumindest für München, neue und nicht ganz unumstrittene Inszenierung von Richard Jones. Sie hat schon einige Stationen hinter sich, Cardiff, Chicago, zuletzt die Met, und auch schon ein paar Jahre auf dem Buckel und sie tritt ein schweres Erbe an. Ich kann mich noch sehr gut an meinen allerersten Opernbesuch erinnern und das war genau diese alte Hänsel und Gretel-Inszenierung, irgendwann im Winter 77/78. So wie mir wird es wohl einigen Münchnern ergangen sein und so verwundert es nicht, dass im Vorfeld schon viel Kritik geübt wurde und auch ich selbst stand der Neuproduktion skeptisch gegenüber. Aber, wie so oft im Leben, muss man sich eine eigene Meinung bilden und eine Vorstellung besuchen. Ob diese Inszenierung für Kinder geeignet ist, kann ich nicht sagen, ich würde nicht wollen, dass mein Kind abgehackte Leichenteile durch die Gegend fliegen sieht und einem Menschen beim Sterben zuschauen muss. Aber jeder wie er mag und verträgt.

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Für Richard Jones geht es bei Hänsel und Gretel ums Essen, genauer um die Abwesenheit oder den Überfluss davon. Konsequenterweise siedelt er dann auch jedes der drei Bilder in einer Küche an, das erste in einer farblos grauen britischen Fünfziger-Jahre-Küche, das zweite in einer opulenten “Waldküche” und das dritte in der gruseligen Hexenküche. Auch der Vorhang, der Ouvertüre und Zwischenspiele bebildert, greift das Thema Essen auf, man sieht einen Teller und Besteck in verschiedenen Phasen des Essens.

Essen ist sinnlich, auch das ist eine Botschaft dieser Inszenierung. Wann immer gegessen wird, sieht man das auch. Gesichter, Hände und Kleidung sind verschmiert, Ausdruck eines Urbedürfnisses des Menschen, sich mal ohne Zwänge so richtig den Bauch vollzuschlagen. Gruselig wird’s dann aber, wenn dieses Bedürfnis in Kannibalismus umschlägt und alle, Kinder, Vater, Mutter, Hänsel und Gretel, sich im Schaubild über die durchgebackene Hexe hermachen.

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Die An- oder Abwesenheit von Essen bestimmt auch die Farbigkeit des Bildes. Im ersten Bild gibt es kein Essen, alles ist grau gehalten. Eine resignierte Mutter, die versucht ist, sich mit Tabletten umzubringen. Die dann, als der Vater kommt, sich als allererstes an die Zubereitung und den Verzehr des mitgebrachten Essens macht. Die dann alles wieder rauskotzt, als sie sich bewusst wird, in welcher Gefahr ihre Kinder schweben. Das zweite Bild, in dem Anzugmänner mit Ästen statt Köpfen den Wald symbolisieren, besticht durch eine satt-dunkelgrüne Farbgebung. Die Traumsequenz hielt ich wirklich für poetisch und auch Ästhetisch umgesetzt. Die Kinder träumen vom Essen, das von einer Menge Köche serviert wird, sie sitzen mit Kleidern von Erwachsenen am Tisch. Das Taumännchen räumt die Reste des Traumes weg, was mir gut gefallen hat. Das Hexenhaus ist ein gieriger Schlund, den Ansatz finde ich gut, die Umsetzung nicht. In der Hexenküche warten quietschbunte Kuchen darauf, gegessen zu werden, die Lebkuchenkinder sind dagegen farblos und leider nicht stilisiert, sondern recht realistisch. Richard Jones versucht in diesem Bild, mit Humor die Grausamkeiten aufzulockern, etwa wenn er die Hexe Hänsel als Truthahn dekorieren lässt, dies scheitert jedoch im Angesicht eines Kühlschranks voller unnötiger Leichenteile. Sicher kann man die Oper so interpretieren wie Richard Jones, man muss aber nicht. Ich wage einmal zu bezweifeln, dass man diese Version in 40 Jahren immer noch spielt.

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Musikalisch war es ein sehr, sehr schöner Abend. Selbst das Publikum war so ergriffen, dass es weder nach der Ouvertüre noch vor dem Zwischenspiel klatschte – das hab ich noch nie erlebt. Tomas Hanus deckte die Sänger nie zu, überhaupt waren bis auf die Hexe von Rainer Trost alle Sänger sehr textverständlich, so dass die fehlenden Übertitel nicht weiter ins Gewicht fielen. Ganz bezaubernd wurde das Geschwisterpaar von Tara Erraught und Hanna-Elisabeth Müller gesungen und gespielt. Der Abendsegen war so innig, so wunderschön, dass ich gern in Endlosschleife gehört hätte. Janina Baechle als Gertrud und Alejandro Marco-Buhrmester als Peter waren geniale Besetzungen, sowohl szenisch als auch gesanglich. Dem Kinderchor fehlte es für mich ein bisschen an Substanz, aber das Sandmännchen von Iulia Sokolik und insbesondere das Taumännchen von Golda Schultz waren wirklich hervorragend.

Es waren in dieser Vorstellung auffallend wenige Kinder, sie begann auch erst um 19.30 Uhr am letzten Ferientag. Die nächsten am 21. und 29.12. haben dann kindgerechter jeweils eine Nachmittags- und eine Abendvorstellung. Der schriftliche Kartenvorverkauf beginnt am 21. bzw. 29. September, Tickets zwischen 8 und 100€, die Nachmittagsvorstellungen sind jeweils Familienvorstellungen, bei Bestellung von mindestens einer Erwachsenenkarte zahlen Kinder bis 14 Jahre nur 10€ auf allen Plätzen. Zusätzlich können Schüler, Studenten sowie Bundesfreiwilligendienstleistende unter 30 aus einem beschränkten Kontingent ab zwei Wochen vor der Vorstellung Sitzplatzkarten zum Einheitspreis von 10€ an der Tageskasse erwerben.

Fotos Wilfried Hösl

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