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Frei & Liebe (12): Das Nichtstun, süß

Sharon Brehm

Ein leichter, noch geruchsloser Schweißfilm bildet sich in meinem Nacken, meine Gliedmaßen habe ich von mir gestreckt wie ein Seestern. Ein Bild schleicht sich in meinen reglosen Körper, ein Foto, das ich von einem Herzensmenschen auf einer magischen Insel geknipst habe.

Sie hält einen türkisen Seestern vor ihr Gesicht, mitten in den Fokus. Ich fühle mich genauso wie dieser Seestern. Noch ein wenig blau und aus seinem ursprünglichen Habitat entrissen. Denn was mich umgibt, ist Stille. Ich, mitten im Nichtstun.

Es ist 10 Uhr morgens. Die Leute sagen, zwei Uhr morgens ist für Liebende, Betrunkene und Poeten. Und 10 Uhr morgens hat die ganze Nation eben produktiv und laut zu sein, vergessen ist die Rauschhaftigkeit – nur ich liege wie ein blauer Seestern in meinem riesigen Bett, bewegungslos, dafür selig lächelnd.

Wie ein toter Fisch im Strom der Gedanken

Ja, auf der Jagd nach dem Glück haben wir wahrscheinlich vergessen, was es bedeutet, still, bewegungslos, inaktiv zu sein. Wie wichtig dieses Nichtstun ist. Selbst im katholischen Bayern ist der Sonntag minutiös terminiert – wie, Sie haben an einem Sonntagmorgen nicht für den Brunch reserviert? Ein Eckchen für zwei Personen? Ja, sind sie denn verrückt, dass Sie meinen, es gäbe sowas noch?

Es hat mich mindestens drei Jahre Yoga-Praxis, 2474 Stunden voll bewussten Ein- und Ausatmens gebraucht, um zu verstehen, dass nach dem Ohhhhhmmmm eigentlich auch die Stille kommen sollte.

Aber die kommt eben ganz selten nur, die richtige Stille, der wahrhaftige Müßiggang, das reale Nichtstun.

Selbst im Urlaub wollen wir nicht mit unseren Gedanken allein sein, selbst in der Stille der Meditation muss aktiv der Geist optimiert werden. Doch durch solche Ambivalenzen werden wir nur zu Architekten eines einbruchgefährdeten Selbstwertgefühls, eines brüchigen Lebens.

Mich beklemmt das Gefühl, dass das große Los unserer Generation sein soll, nicht mehr bei sich selbst, sondern im Warenrausch, auf Arbeitssuche, im Freizeitstress, im Liebestaumel zu kollabieren?

Oder Probleme zu haben, die nichts mit einem persönlich zu tun haben, um 3 Uhr morgens darüber nachzudenken, warum sich diese eine Person noch nicht gemeldet hat, um 4 Uhr morgens im Geiste durchzugehen, was noch alles für dieses megawichtige Projekt gemacht werden muss – und dass die Gesundheit darunter leidet, ist selbstredend akzeptabel.

Bin ich die Einzige, die sich in diesen Momenten wie ein toter Fisch fühlt, der vom Strom der sinnlosen Gedanken und obsoleten Anweisungen mitgeschwemmt wird?

Wie ein Seestern, Nichts tun

Sicherlich, es gibt gute Gründe, warum wir so durchs Leben jagen, warum wir uns in die Wellen mit voller Wucht werfen. Aber ich befürchte, ohne diese reglosen, scheinbar unnützen Seestern-Momente verlieren wir uns vollkommen. Vor allem in der Liebe brauchen wir dieses Nichtstun, dieses simple Sein.

Ohne Seestern-Attitüde können wir das Warten auf Nachrichten nicht aushalten, denn eine Antwort determiniert unseren Selbstwert, bestimmt, ob wir liebenswert und attraktiv sind. Wir sind es so gewöhnt, von außen zu hören, wie gut und schön wir sind, dass wir nicht mehr in uns hineinhorchen können.

Ohne Seestern-Momente, in denen wir nur bei uns selbst sind, können wir nicht vermissen, nicht loslassen. Denn ohne diese Stille müssen wir uns ganz fest in unsere Liebe und Emotionen verbeißen, damit sie auch bloß nicht verschwinden.

Doch erst die Sehnsucht lässt uns klarer sehen, dass es die Verbindung aus Selbst und Restwelt ist, die Bedeutung schafft. Es ist so kitschig, aber was wir lieben, müssen wir freilassen können – nicht nur damit Menschen, Dinge, Gefühle überhaupt erst zurückkehren können. Sondern auch für uns selbst. Für unsere innere, für eine gesunde Autonomie.

Ohne Seestern-Haltung vergessen wir, wer wir eigentlich sind. Lassen uns von den Wellen unserer Herzensmenschen selbst in Krisen werfen. Nicht jeder falsche Blick hat mit uns zu tun und das wüssten wir vielleicht, wenn wir ab und zu bei uns selbst wären. Wenn wir einfach nicht alles persönlich nehmen würden, wenn wir es einfach ignorieren würden.

Ohne Seestern-Einstellung können wir nicht alleine sein, werfen uns von einer Beziehung in die nächste, unverarbeitet die letzten Wunden und nässende Kerben im Herzen. Wie sollen sie heilen, wenn wir ihnen nicht die Zeit zum heilen geben. Wenn wir sie immer aufreißen lassen anstatt uns einen Moment des Nichtstun und Nichtsliebens zu gönnen.

Dolcefarniente, Substantiv, erquickliches Nichtstun

Wir, oder zumindest mir geht es oft so, dass ich dem Glück zwanghaft hinterherlaufe. Und Variante B ist dann, sich leise, sachte, ruhig anzupirschen. Protestantische Arbeitsethik, industrieller Liebesimperativ, schweißtreibende Selbstoptimierung treiben mich durch die Welt.

Doch jetzt liege ich einfach hier auf meinem Bett und lasse meine Gedanken wie Schafwölkchen vorüberziehen.

Ungebändigt, unsortiert, unbedarft. Dolcefarniente in seiner Essenz – süßes, erquickliches Nichtstun. Ich bin glücklich. Einfach so. Vielleicht ist Glück, Liebe, Leben, Schönes und Gutes doch so einfach. Wer weiß das schon?

Eine monatliche Liebeskolumne.

2 Comments
  • Zinskraft
    Posted at 15:54h, 04 Juni

    Liebe Sharon.

    du sprichst uns aus der Seele!
    “Freie“ Tage nehmen wir beim Wort: Einfach in den Tag hinein leben, ohne Verpflichtungen und Pläne. Frei von allem, auch vom Freizeitstress!
    Es gibt nichts Schöneres 🙂

    Liebe Grüße von
    Pia und Martin

  • Julio Axolotl Cortazar
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