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Frei & Liebe (7): Die Grenze, süßsauer

Sharon Brehm

„Woher weiß ich, dass es Liebe ist?“ Sie schiebt sich mit der Gabel das letzte Stück Zitronenkuchen in den Mund. Süßsaurer Genuss auf den Lippen, passend zu einer Antwort, die genauso schmecken wird. Süßsäuerlich.

Wir sitzen im Fenster, umhüllt von kupferrotem Licht in der Waldmeisterei in der Maxvorstadt. Meine Freundin ist seit einiger Zeit mit ihrem Freund zusammen. Die ersten rosaroten Illusionswolken sind verflogen und emotionale Achterbahnfahrten sind einem bequemen Abend auf der Couch gewichen. Aus Verliebtheit wird Liebe. So zumindest die Theorie unserer vom romantischen Liebesideal geprägten Gesellschaft.

 

Es ist was es ist?

 

Ich löffle die Sahnehaube meiner heißen Schokolade direkt in meinen Mund – ja, die Theorie ist lückenhaft, wer sagt, dass es diese emotionale Transformation geben muss, wer erklärt, was Liebe ist, dass Liebe das Qualitätskriterium einer Beziehung sein sollte. Ich denke mir, dass das mit dem Lieben vielleicht ein bisschen so wie mit Gras ist. Wenn man es probiert hat, kennt man den Geruch, der für alle anderen kaum merklich, fast unschuldig in der Luft hängt.

Aber würde ich das meiner Freundin sagen, würde ich ihr unterstellen, sie wisse nicht, was Liebe ist. Dabei ist ihr Zweifeln an dieser emotionalen Leerstelle einem kritischen Geist geschuldet. Liebe als existent, aber nicht beschreibbar abzutun, zu sagen, es ist was es ist, beantwortet keine Frage der Welt. Also verliere ich mich lieber in dem liquiden, cremigen Zuckergenuss vor mir.

 

Cupcakes were muffins that believed in miracles.

 

Ein erwartungsvoller Blick. Ich weiß, dass man sie mit philosophischen Gequatsche nicht abspeisen kann. Gedanklich gehe ich all die Momente durch, in denen ich für mich selbst verstanden habe, dass es Liebe ist, Liebe seien könnte. Es fällt mir schwer einen gemeinsamen Nenner zu finden, gleichen die Menschen, die Beziehungen eher einer Kuchenvitrine. Fruchtige Sommerkuchen einer ersten Liebe neben einer schwer verdaulichen Schokoladentarte. Atemberaubend schön verzierte Torten ohne Geschmack, noch warme Klassiker wie Marmorkuchen und Muffins vom Vortag, cremige Käsekuchen, von denen man sich maximal ein halbes Stück gönnen kann.

Es gibt nur eine einzige Gemeinsamkeit – für jede dieser Lieben war ich bereit Grenzen zu verschieben. Bleibe ich in dieser leckeren Metapher, so genoss ich die sündhaften Süßspeisen trotz des Wissens, dass Zucker weder Vitamine noch Nährstoffe beinhaltet, mich eher süchtiger und vielleicht auch dicker werden lässt. Ja, dieses vollkommene Freisein von rationalen Gründen, der Fokus auf dem Schönen, das Verschieben von Grenzen für jemanden, der Glaube an Wunder – das ist Liebe in ihrer reinsten Essenz. Cupcakes were muffins that believed in miracles. Nur bei mir ist es eben eine gut gefüllte, köstliche Vitrine an Kuchen.

 

Das gehauchte Versprechen Wünsche zu erfüllen.

 

Grenzen zu verändern, kann bedeuten sie einzureißen genauso wie sie zu setzen. Vielleicht wird mit der Person, die man liebt, alles möglich: Ängste können überwunden werden, Uneinigkeiten sind unwichtig, man lässt dem anderen seine Macken und Spleens – sind sie es doch, die jemanden liebenswürdig machen. Wenn es Liebe ist, können Weltverbessernde ausnahmsweise den ganzen Tag im Bett verbringen, Gefühle können – langsam und sachte – ans Tageslicht kommen, notorische Fremdgeher werden treu, Verletzungen werden ausgehalten, heilen. Es ist das im Bett gehauchte Versprechen, alle Wünsche erfüllen zu wollen.

Doch genauso bedeutet Liebe auch, Grenzen zu setzen. Zum Beispiel, indem man jemandem Wahrheiten sagt, auch wenn das bedeutet das eigene Bedürfnis nach Harmonie zu stören, die eigene Comfort Zone zu verlassen. Manchmal auch indem man Geheimnisse wahrt. Sicherlich, indem man Grenzen nach außen baut. In monogamen Beziehungen hat man bewusst nur noch Sex mit der oder dem einen und ist mit dieser Grenze glücklich. In Affären wird es gefährlich, wenn man sich dabei ertappt plötzlich nur noch an eine Person zu denken und nicht mehr an viele – spätestens jetzt gesellen sich tiefere Gefühle dazu. Liebe ist ein Paradox: grenzenlos und Grenze zugleich, herzzerreißender Genuss, süßsauer.

 

Wo ist deine Grenze?

 

Während ich rede, merke ich, wie meine Freundin abdriftet, ihren eigenen Gedanken nachhängt. Erfülltes Schweigen, das man nur mit Herzensmenschen teilt. Aushält. Fast genießt. Irgendwann formt sie einen Gedanken mit ihren Lippen: Wie sieht es bei dir aus, mit deinen Grenzen, deiner Liebe?

Ich bin Single, also geht es nicht um die Zuneigung zu einer anderen Person, sondern zu mir selbst. Liebe ich mich? Innerlich durchlebe ich Szenarien, in denen ich Tabus breche, genauso wie schlechte Parodien veralteter Stereotype, in denen ich keine Grenzen setzten konnte. Ich denke an Momente, in denen ich über meine schlechten Eigenschaften froh war und erinnere mich an Situationen, in denen mir selbst mein Bestes nicht gut genug erschien. Wahrheiten, die ich am liebsten vor mir selbst verheimlicht hätte, lassen mich an die immerwährende, absolute Liebe zu mir selbst zweifeln. Ein Blick reicht, damit sie versteht, dass sie mich ertappt hat.

 

Liebe ist Zitronenkuchen.

 

Doch vielleicht ist auch das eine Grenze, die man neu definieren muss, wenn man liebt. Weil man liebt. Der Imperativ, dass Genuss nie bereut wird, dass das Glücklichsein allzeit im Fokus steht, dass Liebe immer anwesend, nie infrage gestellt wird. Und weil wir das beide ahnen, bestellen wir Nachschlag. Liebe ist eben süßsaurer Zitronenkuchen.

 

Eine monatliche Liebeskolumne.


Beitragsbild: Nordwood Themes via unsplash unter CC0

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