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Gefahr in Giesing? Streit um Risikospiele im Grünwalder Stadion

Benjamin Brown

Ein wiederbelebtes Viertel und gute Stimmung auf den Rängen: Bis zur Corona-Pandemie galt der Wiedereinzug des TSV 1860 München ins Grünwalder Stadion (kurz: das „Sechzger“) als Positivbeispiel für eine „eine einzigartige Symbiose von Verein, Stadion und Viertel“. Nun fordert die Münchner Polizei eine Klassifizierung sämtlicher Herrenspiele im Stadion als „Risikospiele“. Und zieht damit den Ärger Münchner Fußballfans auf sich.

Gute Stimmung in und ums Stadion und sogar Lob von der Polizei: Seitdem der Auszug aus der Allianz Arena die Sechzig-Giesing-Romanze wiederbelebt hat, blühen Verein und Viertel auf. Die Vorzüge des Fußballs auf Giesings Höhen hätte die Fan-Kampagne „Sechzig im Sechzger“ schöner nicht ausdrücken können: „Seit mehr als 100 Jahren ist das Sechzger ein Sehnsuchtsort für viele Fans der Weiß-Blauen, ein Teil Münchner Sportgeschichte und ein Wahrzeichen Giesings“. 

Das städtische Stadion an der Grünwalder Straße sei ein Ort, an dem alle Generationen „von der Rentnerin bis zu unzähligen Kindern“ zusammenkämen, um gemeinsam ihren Verein anzufeuern. Zugleich stellen Sportstätten wie das Sechzgerstadion eine wertvolle Erinnerung dar, wie Stadionbesuche mitten im Viertel einst waren. Fußballromantik eben.

Und auch sportlich läuft es gut: In den ersten 19 Spielen des Trainers Michael Köllner haben die Löwen nur drei Spiele verloren. Köllner hatte die Mannschaft im November übernommen, als der TSV noch vom Abstieg bedroht war. Nach dem Sieg gegen Halle am Sonntag können die Löwen mittlerweile noch mit einem Fünkchen Hoffnung vom Aufstieg in die 2. Bundesliga träumen.

Sollte der Aufstieg tatsächlich noch gelingen, dürfte der deutsche Meister von 1966 seine Spiele weiterhin im Grünwalder Stadion austragen: Anfang Juni hatte die Deutsche Fußball Liga (DFL) verkündet, dass der TSV die entsprechende Zweitliga-Lizenz für das Stadion erhalten würde.

Tatort Giesing? Trotz Lob der Polizei: Verstärkung der Maßnahmen gefordert

Erfahrene Anhänger und Leidensgenossen der Münchner Löwen werden es vielleicht geahnt haben: Wenn es auf Giesings Höhen einmal läuft, lässt die Ernüchterung nicht lange auf sich warten. Finanzielles Missmanagement, eine fragwürdige Personalpolitik und sportliche Tiefen? Allzu bekannt im blauen Teil Münchens. Nun sind es allerdings nicht vereinsinterne Vorgänge, die Fans irritieren: Der jetzige Vorstoß kommt von der Münchner Polizei und dem Kreisverwaltungsreferat (KVR). Trotz positiver Rückmeldungen von Anwohner*innen, lokalen Gewerbetreibenden, der Politik und sogar der Polizei wird jüngst gefordert, sämtliche Herrenspiele im städtischen Stadion an der Grünwalder Straße als „Risikospiele“ zu definieren.

In einer Sitzungsvorlage des Münchner Stadtrats wird gefordert „alle Spiele von Herrenmannschaften im Grünwalder-Stadion“ als „Risikospiele“ zu deklarieren. Bisher galt das lediglich für Spiele zwischen den Herrenmannschaften des TSV 1860 München und dem FC Bayern sowie für Spiele, die am Anfang der Saison auf der Homepage der Stadt München als Risikospiele deklariert wurden.

Betroffen von der geforderten Neuerung sind aber nicht nur die Fans des TSV 1860 München, sondern auch die des Clubs aus der Säbener Straße: Die zweite Mannschaft des FC Bayern München trägt ihre Spiele ebenfalls im Giesinger Stadion aus.

Mit der geplanten Änderung würden bei sämtlichen Herrenspielen im Grünwalder Stadion neue Regelungen gelten, die § 5 der Grünwalder-Stadionverordnung erweitern. Damit wäre es laut Polizei bei sämtlichen Spielen verboten:


– gewaltverherrlichende, rassistische, fremdenfeindliche, rechts- oder linksextremistische Parolen zu äußern oder zu verbreiten sowie Bevölkerungsgruppen durch Äußerungen oder Gesten zu diskriminieren

– Gegenstände oder Kleidung in einer Art und Weise zu nutzen, die geeignet und den Umständen nach darauf gerichtet ist, die Feststellung der Identität zu verhindern

– sich mit anderem zu einem gemeinschaftlich friedensstörenden Handeln zusammenzuschließen

– das Mitführen von Glasflaschen beim gemeinsamen Marsch einer größeren Anzahl von Menschen zum Stadion (Fanmarsch)

– das Durchreichen oder das Werfen von Gegenständen über die Außenumzäunung des Stadions

Keine Änderungen für Fans? Entschärfungsversuch der Polizei

Zudem würden sämtliche Regelungen der Stadionverordnung um eine Stunde nach hinten ausgeweitet, die Polizei könnte nun ab vier Stunden vor Anpfiff bis drei Stunden nach Spielende von den neuen Regularien Gebrauch machen. Für Fußballfans würden sich am Spieltag in Giesing „grundsätzlich keine Änderungen“ ergeben, so ein Sprecher der Münchner Polizei gegenüber Mucbook: „Die Verbote, welche bislang für Spiele mit hohem Risiko galten, werden auf alle Spielbegegnungen ausgeweitet. Zusätzlich kann das Durchreichen oder das Werfen von Gegenständen über die Außenumzäunung des Stadions mit einem Bußgeld nach dem Gesetz über Ordnungswidrigkeiten belegt werden“.

Begründet wird die geplante Änderung der Stadionverordnung durch die Polizei und das KVR damit, dass es in der Vergangenheit „auch bei Spielen, die nicht als Risikospiel eingestuft waren, zu Störungen im Umfeld des Stadions gekommen ist. Zudem kam es immer wieder vor, dass durch dynamische Entwicklungen Spiele erst kurzfristig zu Risikospielen erklärt wurden und eine kurzfristige Veröffentlichung auf der Homepage nicht möglich war“.

Das Polizeipräsidium München begründet die geforderten Änderungen gegenüber dem Stadtrat mit zwei konkreten Ereignissen. So sei es am 10. November 2018 bei einem Spiel der Sechzger gegen den Halleschen FC zu „erheblichen Störungen“ gekommen, nachdem die Gäste aus Halle Gegenstände auf das Spielfeld geworfen und Ordner*innen und Polizeikräfte angegriffen hätten. Als weiteres Beispiel führt die Polizei den 27. Mai 2019 auf, als der TSV gegen Saarbrücken den Aufstieg in die 3. Liga sicherte. Knapp zwei Stunden nach Abpfiff sei ein Rauchkörper in der Nähe des Stadions entzündet worden.

„Löwen-Fans gegen Rechts“ widersprechen

Für das Fanbündnis „Löwen-Fans gegen Rechts“ (LFGR) ist der Vorstoß der Polizei unverhältnismäßig und nicht nachvollziehbar. In einer Stellungnahme reagierten die Fans mit „Ungläubigkeit“ auf die Diskussion. Für sie sei es „unverständlich, dass nun ein Einzelfall zur vermeintlichen Regel gemacht werden soll und so suggeriert wird, in Giesing könne man sich an Spieltagen nicht mehr aus dem Haus trauen“. Noch dazu, da die Polizei bereits über die notwendigen rechtlichen Möglichkeiten verfüge, um auf Situationen wie Gewalt seitens der Hallenser zu reagieren.

Die Begründung für die Ausweitung der Geltungsdauer auf bis zu drei Stunden nach Abpfiff ist für die Fans ebenfalls nicht nachvollziehbar. In ihrem Statement heißt es auf den Rauchtopf nach dem Aufstieg bezogen, dass es „auf der Hand liegen sollte, dass der größte Erfolg der jüngeren Vereinsgeschichte und die damit verbundenen Feierlichkeiten nicht alltäglich sind und daher nicht als Argument für eine Verschärfung der Verordnung dienen“.

Mangelndes Vertrauen und Willkür

Dass das Verbot vom Durchreichen von Gegenständen durch den Stadionzaun nun eine Ordnungswidrigkeit darstellen soll: für die Fans realitätsfern. So sei an Spieltagen die „völlig harmlose Praxis, die Spiel für Spiel stattfindet“ zu beobachten, bei der Bekannte, die bereits im Stadion stünden, Eintrittskarten zu Bekannten durch den Zaun gäben.

Gegenüber Mucbook erklärte ein Sprecher der „Löwen-Fans gegen Rechts“, dass es insbesondere die mögliche Willkür der Behörden sei, die man an der Vorlage kritisch sehe. So sei unklar, ob 10 Freunde, die auf dem Weg ins Stadion seien, schon einen „Fanmarsch“ darstellen, bei dem Glasflaschen verboten wären.

Für mangelndes Vertrauen in das Fingerspitzengefühl der Polizei wird das Drittligaspiel gegen Kaiserslautern im Herbst angeführt. Es sei zu rein willkürlichem und aggressivem Auftreten der Behörden gekommen, als diese versucht hätten, Fantrennung zwischen den Heim- und Gästefans durchzusetzen. Das Brisante daran: Eine langjährige Fanfreundschaft verbindet die Anhänger beider Vereine. Risiko bei einem Aufeinandertreffen der Fans? Nicht gegeben.

Besonders die Nutzung des Begriffs „Risikospiel“ sei heikel, so der Sprecher der LFGR: „Ein Risikospiel sollte immer noch der Ausnahmefall sein. Auch bei Spielen, bei denen kein Risiko besteht, werden pauschal 15.000 Fans unter Generalverdacht gestellt. Es gibt tatsächlich Spiele mit erhöhtem Risiko. Aber worin unterscheiden sich diese Spiele dann noch?“ Die ganze Debatte sende ein falsches Zeichen an die Öffentlichkeit. „Risiko“ würde suggerieren, dass es gefährlich sei, zu einem Fußballspiel in Giesing zu gehen.

Alles nur ein Spiel?

Insider erklären Mucbook, dass es sich bei der angestoßenen Diskussion um ein taktisches Spiel des Polizeipräsidiums handelt: „Risikospiele“ würden den Behörden eine Legitimation geben, an Spieltagen verstärkte Polizeipräsenz zu zeigen. Um mehr Einsatzkräfte stellen zu können, müsse man den Begriff nutzen.

Nach Polizeirichtlinien sei ohnehin jedes Spiel ein „Risikospiel“: Selbst gegen Großaspach – ein Verein, der nicht unbedingt für gewaltbereite Hooligans bekannt ist – war seitens der Polizei von „low risk“ die Rede. Mit dieser Einstufung ist die Polizei alleine. Aktuell werden Risikostufen bei Spielen von den Vereinen und der DFL nach einem Ampelsystem festgelegt: 1860 München und die DFL wären sich zum Beispiel gegen Großaspach einig: Die Ampel zeigt grün.

Entscheidung vertagt

Risikospiele gibt es derzeit Corona-bedingt ohnehin nicht. Die Stadien sind leer, die Saison wird mit Geisterspielen zu Ende gespielt. Wann die Profi-Clubs wieder vor vollen Kurven spielen dürfen, ist unklar. Bayerns Innenminister Joachim Herrmann äußerte jüngst den Vorschlag, ab Herbst wieder mit wenigen tausend Fans mit Sicherheitsabstand pro Stadion zu spielen.

Davor wird sich in der Debatte um Risikospiele ohnehin nichts tun: Der Stadtrat hat entschieden, die Vorlage in den Herbst zu vertagen, um die Sicht der Fans anhören zu können. Für die LFGR ein wichtiges Signal: Fangruppen seien bei der Entwicklung des Sicherheitskonzepts komplett übergangen worden. Umso wichtiger sei es, dass die Politik den Fans jetzt Gehör schenke.

Trotz Vertagung der Entscheidung zeigt die Debatte aber eines doch eindrucksvoll. Auch wenn es noch eine Spielzeit dauern könnte, bis Fans wie gewohnt ins Stadion können: Die Weichen für die Zeit nach Corona werden bereits jetzt gestellt.


Fotos: © Lena Völk

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