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„Es ist oft ein langer Weg, aber es lohnt sich, zu kämpfen“ – Paula von HORIZONT e.V. hilft wohnungslosen Kindern und Müttern

Es ist eine Zahl, die man nicht gerne liest: Mehr als 3.000 Kinder im wohlhabenden München sind wohnungslos – sie haben kein festes Zuhause. Oft sind ihre Mütter traumatisiert von Gewalterfahrungen und mussten ihr Zuhause verlassen – oder sie sind in soziale Schieflagen geraten und haben ihre Lebensperspektive aus den Augen verloren.

Von einem „unerträglichen Misstand“ spricht die Schauspielerin Jutta Speidel in diesem Zusammenhang. Sie ist Gründerin und Vorsitzende von HORIZONT e.V. und engagiert sich mit ihrem Team seit über 25 Jahren gegen Wohnungslosigkeit von Frauen und Kindern in München.

Im Team von Speidel arbeitet Paula als sozialpädagogische Leitung im HORIZONT-Schutzhaus und ist dort als sozialpädagogische Leitung tätig. Sie kann aus ihrem Alltag berichten, wo Probleme und Ursachen beim Thema liegen. Und warum es bei ihrer Arbeit auch um Mut und Hoffnung geht.

„Das Ziel ist immer klar“ – im Interview mit Paula

Hallo Paula, zunächst mal ganz allgemein: Was macht “HORIZONT e.V.”? 

HORIZONT bietet wohnungslosen Müttern mit ihren Kindern Wohnraum und ganzheitliche Betreuung, um sie aufzufangen, sie zu stärken, ihre Selbstständigkeit zu fördern und ihnen neue Perspektiven zu eröffnen. In München betreiben wir dafür zwei Häuser: Ein Schutzhaus, in dem die Mütter und Kinder ein sicheres Zuhause auf Zeit erhalten sowie ein offenes HORIZONT-Haus im Domagkpark – dort finden benachteiligte Familien langfristig bezahlbaren Wohnraum und viele soziokulturelle Angebote. Das Ziel bei HORIZONT ist immer klar: Wir wollen betroffene Familien dabei unterstützen, in absehbarer Zeit zurück in die Gesellschaft zu finden. Das ist oft ein langer Weg, aber es lohnt sich, dafür zu kämpfen.

Wie ist das Projekt entstanden und wer steckt dahinter?

Hinter unserer Initiative steckt die Schauspielerin Jutta Speidel, die in den Siebzigerjahren im deutschen Fernsehen bekannt geworden ist. Bei einem Dreh in München wurde sie vor über 25 Jahren durch einen Zufall darauf aufmerksam, unter welchen unsäglichen Bedingungen wohnungslose Mütter und ihre Kinder untergebracht waren – 1997 hat sie daraufhin HORIZONT ins Leben gerufen. Seither ist das Projekt stetig gewachsen – gleichzeitig ist allerdings auch der Bedarf an Schutzraum und Betreuung für betroffene Mütter und Kinder immer größer geworden.

Aus deiner Erfahrung gesprochen: Warum verlieren Menschen in München – speziell Frauen und Kinder – ihre Wohnung?

Da gibt es ganz unterschiedliche Gründe, die von Streit mit dem Partner, über Verschuldung, Flucht und Familiennachzug bis hin zu Wohnungsbrand reichen. Speziell mit Blick auf Frauen und Kinder muss man erwähnen, dass der Großteil unserer Frauen im Vorfeld physische oder psychische Gewalt erlebt hat – meist vom Partner ausgehend – und deshalb die gemeinsame Wohnung verlassen hat.

Oft kommen multiple Probleme zusammen

Warum ist Wohnungslosigkeit für Frauen, speziell Alleinerziehende, besonders hart?

Ich vermag nicht zu beurteilen, ob Wohnungslosigkeit für Männer nicht genau so hart ist, da diese nicht unsere Zielgruppe sind und ich deshalb über deren Problematiken und Befindlichkeiten keine Erfahrung habe. Ich glaube aber, dass große Aspekte bei wohnungslosen alleinerziehenden Frauen der fehlende Schutz und die Angst vor Gewalt sind. Da Frauen Männern – oft allein aufgrund ihrer Physiologie – schwächer, oder auch aus religiösen Gründen „untergeordnet“ gegenüberstehen, sind sie noch mehr auf Schutz angewiesen. Zumal sie nicht nur sich, sondern gegebenenfalls auch ihre Kinder beschützen müssen. Alleinerziehend zu sein, macht es natürlich umso schwerer, wieder Fuß zu fassen, sowohl in psychischer als auch in finanzieller Hinsicht. Unsere Frauen sind oft schwer belastet aufgrund vieler schlimmer Erfahrungen, hatten oftmals bislang noch wenig Möglichkeit, die deutsche Sprache zu lernen, haben zwei, drei oder mehr Kinder und müssen diese allein aufziehen. Da ist eine Arbeit oder eine Ausbildung erstmal nur eine Traumvorstellung.

Welche Probleme erlebt ihr tagtäglich bei eurer Arbeit?

Komplizierte Aufenthaltsverlängerungen, Familiennachzug, Scheidungsverfahren und Umgangsrechtstreitigkeiten, Verständnisschwierigkeiten aufgrund von Sprachbarrieren, Schuldenproblematik, häufig Schulprobleme oder intensiver schulischer Förderbedarf bei den Kindern. Unsere Bewohner*innen haben zudem oft kein Netzwerk, keine Freund*innen, keine Anbindung an Ärzt*innen. Dazu kommen noch mehr Schwierigkeiten: Die Vereinbarkeit von Arbeit und Familie, Probleme bei bürokratischen Angelegenheiten, psychische und physische Krankheiten, die Diskrepanz zwischen deutscher Kultur und anderen Kulturen – andere Werte, andere Normen – und natürlich nicht zuletzt die Wohnungssuche.

Ist der hohe Lebensstandard in München für sozial Schwache – wie eure Klient*innen – eher ein Problem oder sind dadurch mehr Gelder für Hilfen da?

Natürlich tragen unsere Großspender*innen und Förderstiftungen einen großen Teil dazu bei, dass wir unseren Bewohner*innen soziale Beratung, Kunsttherapie, Traumafachberatung und freizeitpädagogische Angebote und damit sehr viel Unterstützung offerieren können, wofür wir sehr dankbar sind. Grundsätzlich sehe ich aber eine große Problematik darin, dass die Kluft zwischen arm und reich immer größer wird und es für viele Menschen immer schwieriger wird, ihre Lebenskosten zu stemmen.

Die gestiegenen Lebenshaltungskosten sind eine zusätzliche Belastung

Wie hat sich die Lage für eure Klient*innen in den letzten Jahren verändert in der Stadt – auch durch Corona?

Etwas Positives aus der Corona-Zeit war die Vereinfachung von Anträgen: Es gab ein paar Hürden weniger zu bewältigen und das vereinfachte es auch unseren Bewohner*innen. Leider hat sich dies aber nun wieder verändert und findet gerade wieder zu alten, komplizierteren Strukturen zurück. Davon abgesehen hat sich die Lage für viele verschlechtert: Da die Lebenshaltungskosten gerade im letzten Jahr enorm gestiegen sind, sind die Bewohner*innen oft in noch größerer finanzieller Notlage als zuvor. Die Einführung des Bürgergeldes, wodurch unsere Bewohner*innen höhere finanzielle Leistungen erhalten, sowie die Voraussetzungen und Bedingungen, die sich dadurch geändert haben, sind ein Schritt in die richtige Richtung, aber immer noch ein Tropfen auf den heißen Stein.

Erlebt ihr oft, dass Klientinnen schnell wieder Fuß fassen können oder ist das ein langer Prozess? Gelingt es überhaupt oder ist man dauerhaft aus dem Leben gerissen?

In den meisten Fällen ist es eher ein längerer Prozess, bis die Bewohner*innen wieder Fuß fassen und eigenständig in ein selbstbestimmtes Leben starten können. Anfangs sind es oft nur sehr kleine Schritte, aber auch mit kleinen Schritten kommt man letztlich voran. Und wir dürfen uns immer wieder mit Familien freuen, denen der Start in ein neues, eigenständiges Leben gelingt.

„Gemeinsam können wir einen echten Unterschied machen“

Ist die Arbeit auf Dauer befriedigend und sinnstiftend oder eher erschöpfend und desillusionierend? 

Ich würde mal so sagen: Die Sinnfrage stellt sich bei unserer Arbeit auf jeden Fall nicht. Wir unterstützen unterschiedliche Familien auf unterschiedliche Weise in unterschiedlichen Problemlagen und Lebensabschnitten und hierbei offenbaren sich uns natürlich viele Probleme, Leidensgeschichten und schwierige Lebenswege – und ja, dies ist oft anstrengend, aufreibend und auch erschöpfend. Letztlich aber überwiegt das Ergebnis – das, was wir damit bewegen und durch unsere Unterstützung bewirken.

Wie können die Münchner*innen eure Arbeit besser unterstützen?

Als Münchner*in kann man uns ganz einfach unterstützen: Sprecht über Wohnungslosigkeit, denn viele in unserer Stadt nehmen dieses Problem gar nicht wahr oder wissen nichts über mögliche Anlaufstellen, wenn sie einmal damit konfrontiert sind. Und, wenn ihr könnt: Unterstützt uns, indem ihr spendet oder Bekannten von HORIZONT erzählt! Als gemeinnütziger Verein sind wir auf Reichweite und vor allem auf Spenden angewiesen. Jeder Betrag kann einen echten Unterschied machen und gemeinsam mit euch können wir betroffenen Familien weiterhin wirksam helfen.

Beitragsbild: © Cordula Treml;

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