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Kunstlust an der Stadtluft – eine Radltour

Oft bedarf es eines zweiten Blicks oder eines guten Auges, um Kunst im öffentlichen Raum als solche wahrzunehmen. Denn Kunst fordert unsere Sehgewohnheiten heraus, stößt etwas in uns an, wirft Fragen auf oder gefällt einfach. Statt ins Museum zu gehen, schlagen wir euch heute einmal vor, mit offenen Augen durch die Stadt zu radeln. Wir haben uns eine eindrucksvolle Route ausgedacht und stellen euch sehenswerte Kunst am Bau und im öffentlichen Raum vor. 

Die reine Fahrzeit der Tour beträgt knapp eine Stunde und sie ist rund 13 Kilometer lang. Teils haben wir uns auffällige und bekannte, aber auch einige nicht so prominente Kunstwerke vorgenommen*. Wer stehen bleibt, Pausen macht, die Tour vielleicht mit Kulinarischem verbindet, sollte circa drei Stunden einrechnen. Starten werden wir am Kirchplatz von St. Stephan in der Innenstadt und unsere Tour endet am Oberanger. 

*Zum Nachfahren findet ihr die Tour hier als Google Maps Tour: bit.ly/3tpoaps 

1. „Waterfall“ – zweimal hinschauen lohnt sich.

Zweimal muss man hinschauen, wenn man diese vergammelt anmutende und tropfende Matratze über einem Mäuerchen am Eingang des Südfriedhofs vor St. Stephan hängen sieht. Ein Überbleibsel einer temporären Übernachtungsstätte? Nicht ganz. Die Bronzeskulptur „Waterfall“ von Tatjana Trouvé gliedert sich fast unmerklich in den Stadtraum ein und die Matratze ist so detailliert gearbeitet, dass sie erstaunlich realistisch wirkt. Der Brunnen wurde 2013 im Rahmen eines Projekts namens „a space called public“ aufgestellt. Das Projekt der Stadt München wirft die Frage der Nutzung öffentlichen Raums in Zeiten der Globalisierung auf. 

Nun schieben wir die Räder über den Südfriedhof, eine märchenhafte Oase inmitten der trubeligen Innenstadt. Unter Familien ist er bekannt für seine zutraulichen Eichhörnchen. Zudem liegen hier einige bekannte Münchner Baumeister wie Gärtner, Klenze, Kaulbach und Schwanthaler begraben. Vorbei am Arbeitsamt radeln wir Richtung Schlachthof.

2. “I See A Face. Do You See A Face.” – ein neues Gesicht am Wolkenhimmel

Im Februar eröffnete das neue Kulturzentrum Luise zwischen Poccistraße und Schlachthof. Das nun größte Stadtteilkulturzentrum der Stadt wartet noch auf seine finale Belebung, aber das Kunstwerk vor dem Gebäude kann schon besichtigt werden: Die in München lebende Künstlerin Flaka Haliti hat vor dem Gebäude ihr Kunstwerk “I See A Face. Do You See A Face.“ auf- und ausstellen dürfen. Die 15 Meter hohe Metallskulptur malt ein Gesicht in den Himmel – je nach Wetterlage kann das ganz unterschiedlich aussehen. Auch durch Standpunkt und Blickwinkel verändert sich ihr Gesichtsausdruck. Steht man direkt unter dem Kunstwerk, wird es vollkommen abstrakt. Das Gesicht wirkt filigran und transparent.

Weiter geht es über die Theresienwiese, auf die Bavaria zu, vorbei an der großen Schnecke, „Sweet Brown Snail“ von den Künstlern Jason Rhoades und Paul McCarthy gegenüber dem Verkehrsmuseum. Wir biegen rechts ab in die Ganghoferstraße.

3. Die unendliche Treppe in der Beratungsgesellschaft

Kunst am Bau wird teils auch von Unternehmen prominent auf dem firmeneigenen Areal platziert. So etwa die „endlose Treppe“ von Olafur Eliasson im ehemaligen Firmensitz von KMPG an der Ganghoferstraße 29. Der Künstler nennt sein Werk selbst „Umschreibung“. Wenn man die Treppe begehen könnte, was aktuell leider nicht möglich ist, so müsste man fürs Auf- und Absteigen nie die Richtung wechseln – ein endloser Kreislauf also. Die Treppe fügt sich farblich in den Gebäudekomplex ein und ist einfach schön anzusehen. Sie gehört sicherlich zu den bekanntesten Skulpturen in der Stadt und ist längst auch auf Instagram zu einem echten Klassiker avanciert.

Wir radeln weiter die Kazmairstraße entlang, bis wir auf die Bergmannstraße stoßen. Hier biegen wir rechts ab und werfen kurz einen Blick auf die Häuserfront rechts an der Bergmannstraße 21, wo schöne Murals – so nennt man die Wandgemälde in der Street-Art-Szene – an der Fassade zu entdecken sind. Für unser nächstes Ziel geht es aber noch ein Stück weiter bis zur Kreuzung an der Westendstraße, wo wir rechts abbiegen.

4. Kreatives Potenzial – Positive Propaganda und NoNAME im Westend

Kunst im öffentlichen Raum lädt durch ihre konstante und unübersehbare Präsenz auch dazu ein, politisch zu sein. So gibt es in München etwa den Verein Positive Propaganda e.V., der sich über Street-Art verschiedenen politischen Themen nähert. In der Westendstraße 99 liegt das Augenmerk auf dem Thema der sozialen Brennpunkte und der sogenannten „Unorte“: Die über zehn Meter hohe Wandmalerei soll auf das soziale und kreative Potenzial der Bewohner*innen aufmerksam machen, die eben nicht in schicken Altbauwohnungen in gentrifizierten Stadtteilen leben. 
Das Kunstwerk wurde 2015 vom Künstler und Politaktivisten NoNAME gestaltet. In unmittelbarer Umgebung sind noch mehr sehenswerte und aktuelle Wandmalereien zu finden. Mehr Informationen dazu sind auch auf der Website des Vereins zu finden.

Jetzt verlassen wir das Westend Richtung Norden. Wer Gefallen gefunden hat an Fassadenbemalung, kann sich noch den riesengroßen Kaktus des italienischen Künstlers Agostino Iacurci an der Außenfassade des Meininger Hotels in der Landsberger Straße 20 anschauen. Wir fahren über die Hackerbrücke, vorbei am Circus Krone Richtung Maxvorstadt. Skurriles lässt sich bei einem kleinen Schlenker über den Bayerischen Hof entdecken: Die Statue zum Gedenken an den Komponisten Orlando di Lasso wurde von Michael-Jackson-Fans vor vielen Jahren als Denkmal zweckentfremdet und ist nach wie vor eine fragwürdige, bunte Pilgerstätte. Aber weiter …

5. Da triffst du „Never Ever“ – in der Barer Straße

Benjamin Bergmann installierte auf dem Dach eines mehrstöckigen Gebäudes in der Barer Straße 21 – ein ehemaliges Rechenzentrum – eine Basketballkorb-Wand. Der Korb hängt so hoch, dass es unmöglich erscheint, einen Treffer zu landen. Das ist auch die Intention des Künstlers, denn er möchte aufzeigen: Scheitern ist wahrscheinlicher als Erfolg. Die Position des Korbes ist also bewusst vollkommen absurd gewählt. Er selber sagt zu seinem Werk: „Das Schöne an der Absurdität ist für mich die Nachhaltigkeit der Verwirrung. Irgendwann ertappt man sich bei dem Gedanken, dass eine gänzlich absurde Welt vielleicht viel schöner wäre.“ Wir freuen uns über die Spiegelungen der Wolken auf der Fassade und finden die Position des Korbes gar nicht so absurd. 

Zur nächsten Station geht es weiter Richtung Osten, wir queren die Ludwigstraße, fahren vorbei am Amerikanischen Generalkonsulat, vor dem ein Stück der Berliner Mauer steht. Vor dem Bayerischen Nationalmuseum werden zwei große Wörter sichtbar – Love und Hate. Die Skulptur ist vor einiger Zeit vom Siegestor hierher gezogen. Sie stammt von der Künstlerin Mia Florentine Weiss und ist auch immer ein beliebtes Fotomotiv. Aber jetzt Richtung Isar.

6. Ein Zen-Garten für München – der Brückenspross über dem Wasser

Bevor wir unsere Rückfahrt in die Innenstadt antreten, wollen wir uns noch zwei neue Kunstwerke anschauen. An der Widenmayerstraße Ecke Gewürzmühlstraße finden wir das Kunstwerk „Bridge Sprout“ des japanischen Ateliers Bow-Wow. Auf den ersten Blick sieht es aus wie ein überdimensionaler Gartenzaun – aber es handelt sich tatsächlich um eine Aussichtsplattform, die über die Isar reicht. Eine halbe Brücke sozusagen, mit der sich Spaziergänger*innen mit nur wenigen Schritten mitten in die Natur begeben können. Auf der anderen Isarseite ist auch eine Plattform zu finden. Es gibt also eine unsichtbare Verbindung zwischen den beiden Standorten, die von den Betrachter*innen erdacht werden soll. “Fehlendes aus eigener Vorstellungskraft hinzuzufügen und zu diesem Zweck von einer erhöhten Holzplattform auf Wasser, Steine und Pflanzen ausgerichtet zu sein, ist nicht zuletzt auch ein ästhetisches Grundprinzip der traditionellen Zen-Gärten Japans“, heißt es von den Initiator*innen. 

Wir bewegen uns weiter auf dem Isarradweg Richtung Süden. Wer sich für Gebäudekunst interessiert, sollte einen Abstecher an den Ostbahnhof ins Werksviertel machen. Dort wurde das Werk 12 mit dem renommierten deutschen Architekturpreis DAM ausgezeichnet und zum Gebäude des Jahres gekürt. Die großen Schriftzüge AAHH, WOW und HIHI sind kein Zufall und keine Reklame, sondern: Kunst am Bau!

7. Die Bavaria der Radler*innen an der Corneliusbrücke

Bis Ende 2021 kann man noch eine veränderte Mini-Version der Bavaria an der Corneliusbrücke bewundern. Ganz in Schwarz, gestaltet von der Künstlerin Alicja Kwade, steht sie am Radweg. Es handelt sich aber nicht um eine exakte Kopie der Statue von Ludwig Schwanthaler, an der wir zu Beginn der Tour schon vorbeigeradelt sind. Für diese Version der Bavaria hat man beispielsweise Löwe, Lorbeeren und Schwert weggenommen, um sie humaner und menschlicher erscheinen zu lassen. Auch die Größe wurde angepasst, sie begegnet den Betrachter*innen nun auf Augenhöhe und steht an einem der meistbefahrenen Radwege der Stadt. Ihr Erscheinungsbild und ihre Nahbarkeit verändern die Perspektive auf die Bavaria, die für die meisten ein wichtiges Wiesn-Fotomotiv und nicht zuletzt die weltliche Schutzpatronin der Bayern ist.

Auf der gegenüberliegenden Straßenseite befindet sich übrigens das europäische Patentamt – ein Eldorado für Kunst am Bau und im Außenraum. Auf dem Gelände kann man Skulpturen fünf verschiedener Künstler*innen entdecken. Die Website des Patentamts liefert dazu ausführliche Beschreibungen. Interessierte nehmen sich für diese Betrachtung eine extra halbe Stunde Zeit – es lohnt sich. Wir fahren weiter Richtung Gärtnerplatz.

8. Kontraste am Gärtnerplatz

Am Gärtnerplatz ist wie immer die Hölle los, es wird getrunken, gefeiert und die Mülleimer quellen über. Durch die Massen schieben sich Flaschensammler*innen, mehrere Bänke werden noch von schlafenden Obdachlosen okkupiert. Bei genauerem Hinschauen erscheint einem diese Diskrepanz zwischen Überfluss und Armut doch frappierend. Diese Beobachtung war auch Inspiration für den spanischen Künstler LIQEN, der auf Einladung des Vereins Positive Propaganda vier große Wände an der Corneliusstraße 10 gestaltete, einem Umspannwerk der Stadtwerke München. 

Weg vom Gärtnerplatz geht es wieder Richtung Stadtmitte, vorbei an der Synagoge und über den Jakobsplatz. Links das Jüdische Museum, rechts das Stadtmuseum. Im Rosenthal 16 kann man kurz einen Blick auf ein Fassaden-Mosaik von Angela Gsaenger aus den 1950er-Jahren werfen – wenn die Baugerüste bald wieder den Blick dafür freigeben. Wer sich für historische Fassaden interessiert, dem sei zudem die Broschüre von der Stadt München zum Thema empfohlen. Die gibt es gratis zum Download.

9. Erinnern am Oberanger

Letzte Station: Wer sich schon immer mal gefragt hat, warum der Blue-Tomato-Shop so bunte Wegplatten bekommen hat, dem sei nun noch eine ganz andere Geschichte erzählt: 

Das bunte Bodenwerk der Künstlerin Ulla von Brandenburg steht an einem zentralen Ort am Oberanger, dort wo früher das Schwulenlokal „Schwarzfischer“ war. 1934 fand hier die erste großangelegte Razzia der Nationalsozialisten statt, mit der die systematische Verfolgung Homosexueller durch Polizei, Gestapo und Justiz begann.

In seiner Buntheit steht das Denkmal für eine offene, tolerante Stadtgesellschaft. Die Dreiecke in den Bodenplatten zeigen das Symbol, das Homosexuelle zur Kennzeichnung im Konzentrationslager tragen mussten. Die Künstlerin aus Karlsruhe beschreibt es folgendermaßen: „Das bunte Muster des Denkmals bezieht sich auf die Regenbogenfahne, die ein wichtiges Symbol der Lesben- und Schwulenbewegung ist und auch allgemein als Zeichen für Toleranz, Vielfältigkeit und Hoffnung steht.“ Das Kunstwerk wurde 2017 fertiggestellt.

Wer bis hierhin durchgehalten hat, dem sei nun ein kühles Radler gegönnt. Dazu eignet sich das Stadtcafé mit Blick auf die Synagoge oder gleich der Biergarten am Viktualienmarkt, der übrigens immer im Wechsel das Bier aller sechs Münchner Brauereien ausschenkt!

Was ist eigentlich “Kunst am Bau”?

Kunst am Bau gibt es schon seit über 70 Jahren. Aber was bedeutet das eigentlich? Der Bund hat sich damals verpflichtet, 0,5 bis 1,5 Prozent der Baukosten seiner Gebäude für Kunstwerke an oder in Gebäuden auszugeben. Und das nicht nur bei Neubauten, sondern auch bei Umbauten. Manche Länder oder Kommunen haben diese Verpflichtung freiwillig übernommen. Dazu gehört auch München. Die Stadt weitet diesen Auftrag sogar noch aus, bezieht ihn nicht nur auf Gebäude, sondern überträgt ihn auch auf den öffentlichen Raum. Das Kunst-am-Bau-Programm der Stadt München heißt übrigens QUIVID und hat auch eine Homepage mit einer Liste von Werken.

Hinweis: Dieser Text erschien zuerst im Juli 2021 in unserer Printausgabe #16 (zum Thema „Kunst und Kultur“ – nachzubestellen hier).

Fotos von Ralf Gutjahr (©)

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